Rückeroberung

■ Sowjetische Truppen stürmten das lettische Innenministerium KOMMENTARE

Auf die Frage, ob Gorbatschow von den mörderischen Aktionen in Litauen und Lettland wußte, gibt es zwei sich ergänzende, deprimierende Antworten. Die erste: Niemand kann in seiner Position über Entscheidungen dieser Tragweite nicht informiert gewesen sein. Hinter dem Gesicht eines freundlichen Reformers steckt danach das eines blutrünstigen Tyranns. Dieses Bild, von dem die demokratische Bewegung in Rußland und die Nationalbewegungen in anderen Republiken ausgehen, erscheint jedoch übertrieben. Kein Mensch könnte in solcher Verblendung das eigene Lebenswerk zerstören wollen. Immerhin würde die Unwissenheit Gorbatschows bedeuten, daß er wichtige Entscheidungen nicht mehr trifft und über sie auch nicht früher informiert wird als andere Bürger.

Die zweite Antwort: Gorbatschow könnte die Maßnahmen persönlich angeordnet haben. Dafür spricht, daß er in konkreten Regelungen zwar immmer zu Kompromissen bereit war, daß er aber am Erhalt der Union festhielt. Ein einseitiger Austritt müsse — das hat er oft genug wiederholt — zu Blutbädern führen. Aber warum sollte Gorbatschow seine Machtlosigkeit behaupten, wenn er die Zügel in den Händen hielt — zumal er die Aktionen des Militärs in Vilnius nachträglich als „Selbstverteidigung“ rechtfertigte. Die diktatorische Machtfülle die er sich im Dezember übertragen ließ, stünde nur auf dem Papier.

Gorbatschows Stärke war es ursprünglich, die alten Machtapparate meisterhaft zu beherrschen. Er verstand es, seine Feinde in immer neuen Überraschungsmanövern auszuhebeln und an ihrer Stelle verbündete Reformer zu installieren. Durch seine Reformen aber entmachtete er zugleich jene Apparate, die die Basis seiner eigenen Macht waren. Eine politische Kultur, die ein demokratischeres und dezentralisiertes Gemeinwesen hätte tragen können, gab es jedoch nicht. Der Staats- und Wirtschaftsapparat reagierte anarchisch. Die Zentrale gab Befehle, und unten tat jeder, was er wollte. Diese Anarchie im schlechten Sinne hat vielleicht auch die Sicherheitsapparate ergriffen. Aber die örtliche Repression wird durch ein seit Mitte 1990 in der Zentrale zunehmend vorherrschendes reaktionäres Klima gedeckt.

Immer war Gorbatschow auf die Kooperation der Konservativen angewiesen. Eine plötzliche radikale Revolution konnte die Perestroika gar nicht sein. Statt jedoch Gorbatschows kompromißlerische Mittelposition zu akzeptieren und geschickt zu nutzen, sahen die Liberalen ihn zu früh als Bündnispartner der Konservativen. Dahinter steckte Leidenschaft, Ungeduld und Kompromißlosigkeit. Wo es nicht gelang, das als richtig Erkannte sofort durchzusetzen, griffen Hysterie, Panik oder Pessimismus um sich. Die Liberalen begannnen ihre Positionen unter Protest zu räumen, und je mehr von ihnen gingen, desto schwieriger wurde die Situation jener, die noch geblieben waren. Die Konservativen eroberten so zurück, was sie verloren hatten.

In den baltischen Republiken führte dieser Mechanismus zur Katastrophe. Natürlich hatten die Nationalbewegungen darin recht, daß die Annektionen von 1940 von Anfang an Unrecht gewesen waren. Ihre Republiken hatten und haben ein Recht auf Unabhängigkeit. Aber zwischen dem Recht und seiner Durchsetzung können sich Schwierigkeiten ergeben, die gemeistert werden müssen. Das hätte früher erkannt werden müssen, als noch große Worte und milde Gegenmaßnahmen aufeinander prallten. Daß es in der Sowjetunion Reaktionäre wie Pugo, Alksnis, Gromow, Petruschenko gibt, daß Truppenteile aus besonders brutalen Schlächtern zusammengestellt werden — gewöhnlich nennt man sie „Elitetruppen“ —, war immmer zu erwarten. Daß ihnen aber die Macht beinahe zugeschoben wurde, hätte nicht sein müssen. Sie bringen nun auch in der Sowjetunion Vernunft und Hoffnung gewaltsam zum Schweigen. Erhard Stölting