Die alte Wunde zwischen Orient und Okzident

In den Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien regt sich die Bevölkerung und demonstriert für Saddam Hussein/ Islamistische Kundgebungen/ „Endlich hat die arabische Welt einen David, der die jahrhundertealte Schmach reinigen wird“  ■ Von Oliver Fahrni

Paris (taz) — Imam Ali Belhadj, die feinlippige Nummer Zwei der algerischen Islamisten (Front Islamique de Salut — FIS), spaltet ein theologisches Haar wie kein Zweiter. Wo er predigt, eröffnet er säuselnd, steigert sich, treibt schließlich mit gewaltigen Worthieben die algerischen Massen voran. Und dabei bleibt sein Kamis so makellos sauber, daß ihm der Volksmund eine wüste Libido nachsagt.

Letzten Freitag stieg Belhadj nach dem Gebet in Bab-el-Oud aus dem weißen Gewand, streifte sich einen tarnfarbenen Kampfanzug und Rangers über. An der Spitze von reichlich hunderttausend Demonstranten, längst nicht alle Anhänger des FIS, zog er wie ein Feldherr auf einem Lastwagen zum Regierungspalast, um von Präsident Chadli den sofortigen Kriegseintritt Algeriens an der Seite des Iraks zu fordern und ein Erdölembargo für die Länder der Anti-Saddam-Koalition. Die Demonstranten, Kinder des Aufstandes von 1988, riefen „Gott ist groß und er schütze den Irak“, „Bush — Mörder, Mitterrand — Mörder“ und „Chadli — wähle dein Lager“.

Mit den „Scud“-Raketenangriffen auf Israel hatte die Depression in breite Mobilisierung umgeschlagen. Der FIS war in der Saddam-Frage erst gespalten — die Partei wurde von den Saudis finanziert. Jetzt schlugen sich Belhadj und Madani schnell auf die Seite des Irak. „Die Regierung“, rief der Imam beim Freitagsgebet, „hat zwei Tage Zeit, Trainingscamps für die Irak-Freiwilligen einzurichten. Tut sie's nicht, ist morgen ganz Algerien ein Trainingslager.“

In Tunesiens Hauptstadt Tunis waren tags drauf hunderttausend auf den Straßen. Die ganze Woche über hatten vorab die Islamisten von der (illegalen) „Ennadha“-Bewegung und die linke Opposition in der Provinz mobilisiert. Tunis, von Militär besetzt, blieb ruhig. Am Freitag riefen die regierungsnahen Gewerkschaften zur Demo „Gegen den Krieg“; die Basis drehte sie zur Pro- Saddam-Kundgebung.

„Endlich“, sagte eine Uni-Dozentin für Journalismus, „hat die arabische Welt einen David, der die jahrhundertealte Schmach reinigen wird. Die Israelis haben Tunis bombardiert, sie haben hier ungehindert Palästinenser gemordet. Jetzt schickt ihnen Saddam die Raketen. Denkt Präsident Ben Ali nicht sehr schnell um, kippt das Land.“ Ein paar Straßen weiter vereitelte die Polizei eine Pro-Saddam-Demonstration der sechs Oppositionsparteien. Hinter der brutal prügelnden Polizei standen in zweiter Linie die Militärs — mit vorgehängtem Sturmgewehr.

Auch König Hassan II. von Marokko hatte am Wochenende seine Truppen in Alarmbereitschaft versetzt. „Beim geringsten Anzeichen schon, und nicht erst bei der geringsten Störung“, hatte er dekretiert, „werden wir den sofortigen Ausnahmezustand verhängen.“ Der König hat Truppen nach Saudi-Arabien an die Seite der USA befohlen. Die Saudis sind eng mit dem hassanschen Haus liiert, besitzen große Ländereien und spannen in Marokko gerne vom Petrodollarzählen aus. Vorsorglich wurden alle Schulen geschlossen. Franzosen und Amerikaner zogen massenweise aus. Nach der königlichen Drohung aber sagten die Oppositionsparteien UNFP und Istiqlal ihre Irak-Kundgebung ab — wegen akuter Repressionsgefahr.

Mitte Dezember hatte Hassan II. soziale Unruhen blutig unterdrückt. Bilanz: Mehrere Dutzend Tote, eine erbarmungslose Prozeßwelle. „Aufgeschoben ist nicht abgesetzt“, meinte ein marokkanischer Gewerkschafter: „Wir werden uns nicht einschüchtern lassen. Wir bereiten eine große Kundgebung für Saddam vor, gegen den amerikanischen Imperalismus und zugleich für unsere sozialen Forderungen.“

Der Krieg im Golf hat für die Bevölkerung im Maghreb ein doppeltes Gesicht. Zum einen reißt er die alte Wunde zwischen Orient und Okzident wieder auf. Kein Maghrebiner, meint Ait Ahmed, der prowestliche Chef der algerischen Sozialdemokraten (FFS), der diesen Krieg nicht „als gewaltätigsten Kreuzzug, der je gegen den Islam geführt wurde“ verstehe. Zum andern befördert der Streit um Erdöl und politische Vormacht im Nahen Osten den sozialen Umbruch in Algerien, Tunesien, Marokko. Die Regimes wanken.

Die jungen Bevölkerungen dieser Länder haben mit der Wirtschaftskrise und dem zunehmenden Schrumpfen der Wohlstandsinseln jede Hoffnung auf eine menschenwürdige Existenz verloren. Sie verstehen ihre zunehmende Misere als Scheitern der westlichen Entwicklungsmodelle und der okzidentalen politischen Systeme, wozu sie auch den Sozialismus zählen.

„Wie könnt ihr erwarten“ sagte am Samstag Nassera, Schriftstellerin und Kommunistin, „daß Begriffe wie Demokratie, Menschen- und Völkerrecht, Sozialismus bei uns einen positiven Gehalt haben könnten, wenn ihr seit Jahrzehnten jeden Versuch der Selbstbestimmung im arabischen Raum brecht, und dies auf dem Hintergrund einer uralten Dominanz? Wie könnten solche Modelle bei uns Sinn machen, wo sich unsere Prinzen und Oligarchen, die zugleich eure Lakaien sind, unablässig und wortgewaltig auf sie berufen, um dann das Volk niederzuknüppeln und dort die Bildung einer Opposition zu verhindern? Und ihr verkennt diesen Zusammenhang: Fügt ihr Saddam eine vernichtende Niederlage zu, wird das bißchen Demokratie, das in Algerien seit dem Oktober 88 wuchs, weggespült, und wir sind auf hundert Jahre in eine neue, mörderische Orient-Okzident-Auseinandersetzung verstrickt.“

Die Demonstranten von Halfaouine, Bab-el-Oued und Mont- Fleuri haben eines gemein: Sie sehen ihre Regimes — das „demokratische“ Tunesien, das „sozialistische“ Algerien und die „moderne“ prowestliche marokkanische Monarchie — als kontinuierliche Fortschreibung der Kolonialzeit. Sie möchten Chadli, Ben Ali, Hassan stürzen und zugleich die Beziehungen zu den dominierenden reichen Ländern neu regeln.

Das erklärt den massiven Zulauf der radikalen Islamisten. In fast allen arabischen Ländern haben sie das Monopol der politischen Opposition. Ihre konkrete Sozialarbeit, der lärmende Bruch mit westlichen Modellen und der Versuch, neue soziale Ordnungsvorstellungen aus der eigenen Kultur zu schöpfen, machten FIS, Ennadha und die Moslembrüder zur ersten Kraft in ihren Ländern. Der französische Orientalist François Burgat nennt das in einem etwas kühnen Bild „die dritte Stufe der Entkolonialisierungsrakete“. Er hat in den radikalen Islamisten eher „eine politische Sprache“ denn eine religiöse Hinwendung ausgemacht, gleichsam „das Mittel, sich eine Politik wieder anzueignen, die ihnen die Prinzen entwunden haben.“

Das Paradox, daß ausgerechnet der blutige irakische Diktator zum Helden der arabischen Massen wurde, erklärt sich neben manchen Eigenheiten arabisch-islamischen Denkens vorab aus Saddams erklärtem, wenn auch nachgeschobenem Willen, das ungerechte Herrschaftssystem am Golf aufzubrechen — und durch die arrogante amerikanische Intervention. Bezeichnend die Reaktion jener algerischen Advokatin, Trotzkistin und Feministin, die am Sonntag meinte: „Ich bin bereit, ab morgen den Hidjab zu tragen, wenn das hilft, die US-Herrschaft zu brechen und unser Regime zu stürzen“.

Die maghrebinischen Regierenden haben derweil erkannt, wieviel soziale Sprengkraft in der symbolischen Auseinandersetzung am Golf dräut. Hassan II. schickte Grüße ans „liebe Brudervolk“ und schlug in einer neuen Friedensinitiative vor, die irakischen Truppen in Kuwait durch eine panarabische Streitmacht zu ersetzen. In Algerien ging die bisher allein regierende FLN auf Distanz zu Präsident Chadli. Ein Kolummnist der FLN-Tageszeitung „Al-Chaab“ forderte die Regierung auf, unverzüglich auf der Seite Bagdads in den Krieg einzutreten. Dem Trend konnten sich auch Demokraten, Gewerkschafter, Kommunisten und die andern laizistischen Parteien nicht entziehen. Auf ihrer Demo vom Samstag morgen riefen Sprechchöre zum Djihad, dem Heiligen Krieg.