Wenn die Zivis ausbleiben, droht das Heim

Ein Beispiel für den Pflegenotstand: Ein Schwerstbehinderter aus Neuss ist bisher rund um die Uhr von vier Zivildienstleistenden betreut worden — nun bangt er um seine Unabhängigkeit/ Das Sozialamt der Stadt würde ihn gerne in ein Heim abschieben  ■ Von Walter Jakobs

Wolfgang Surlemont ist seit seiner Geburt spastisch gelähmt. So schwer, daß er ohne Hilfe kein Glas leeren, keinen Bissen essen kann. Ein schwerstbehinderter, an seinen Rollstuhl gefesselter Mann, der seine Besucher indes regelmäßig in ungläubiges Staunen versetzt, wenn er erzählt, daß er nun schon seit 13 Jahren im eigenen Haushalt mitten in der Neusser Innenstadt lebt. Gut gegangen ist das nur, weil Wolfgang Surlemont — angetrieben von einem unbändigen Willen zur Selbständigkeit — es in all den Jahre geschafft hat, Zivildienstleistende zu finden, die ihn im Schichtdienst rund um die Uhr versorgten.

Jetzt ist seine bisherige Lebensweise akut gefährdet: ein Ergebnis der rückwirkenden Verkürzung des Zivildienstes im September vergangenen Jahres. Für Surlemonts Zivildienstleistende, die bis Ende Juni 1991 fest eingeplant waren, endete also der Dienst schon am 31. Dezember 1990. Während sich früher über Mundpropaganda oder durch Direktvermittlung über das Neusser Sozialamt immer wieder Nachfolger fanden, blieb diesmal für den Schwerstbehinderten alles Suchen erfolglos.

„Hier habe ich meine Freunde, hier will ich bleiben“

Wolfgang Surlemont muß seit dem 1. Januar völlig ohne die Hilfe der Zivis auskommen. Gäbe es nicht Oliver Ließ, einen Freund, der bei ihm zur Untermiete wohnt, das selbständige Leben des Rollstuhlfahrers wäre längst beendet. Das Neusser Sozialamt, das all die Jahre die Betreuung mitorganisierte und über Wohngeld zu einem Teil mitfinanzierte, sträubt sich nun, ersatzweise ausreichende Plegekräfte zu engagieren. Im Rahmen der „Hilfe zur Pflege“ zahlte die Behörde zunächst lediglich für 170 Stunden 2.040 DM pauschal als Betreuungskosten, die Wolfgang Surlemont an seinen Freund weitergab. Betreut werden muß Surlemont aber jeden Tag — 24 Stunden lang, und das ist von einer Person alleine nicht zu leisten.

Inzwischen hat das Sozialamt zugesagt, für einen Teil der „Überstunden“ aufzukommen und als „absolute Notlösung“ eine weitere Hilfskraft „vorübergehend“ zu finanzieren. Spätestens dann, wenn Oliver Ließ schlappmacht, platzt auch dieses „Modell“.

Sozialamtsleiter Karl Josef Uhe bedrängt Surlemont seit Wochen, seine Wohnung zugunsten eines Platzes in einer „behindertengerechten Einrichtung“ aufzugeben. Im WDR-Regionalfernsehen versprach Uhes Chef, Sozialdezernent Peter Söhngen, zwar, die CDU-regierte Stadt werde dafür sorgen, daß „Herr Surlemont so weiterleben kann wie bisher“, doch die bislang gewährte finanzielle Unterstützung — zumal ausdrücklich als zeitlich befristete Notlösung charakterisiert — läßt genau das nicht erwarten.

Ins Heim oder in eine Wohngemeinschaft will Surlemont auf gar keinen Fall. „Vor 13 Jahren habe ich ein Experiment gewagt, und es ist gelungen. Im Heim sehe ich meine Selbständigkeit stark eingeschränkt. Auch was ich von den Wohngemeinschaften in Düsseldorf gehört habe, ist nicht gerade das, was mir gefällt. Hier in der Stadt Neuss lebe ich seit 38 Jahren, hier habe ich meine Freunde, hier will ich bleiben.“

Von der Stadt fordert er, „daß sie meine Betreuung weiter sichert“. Als Übergang erwartet er die garantierte Finanzierung von zwei hauptamtlichen Kräften, solange jedenfalls, „bis ich erneut mindestens zwei Zivildienstleistende gefunden habe“. Gelänge ihm das, ließe sich zusammen mit einem Hauptamtlichen seine Betreuung sichern.

Surlemont ist entschlossen, für seinen in vielen Auseinandersetzungen mit den Behörden verteidigten Freiraum auch künftig zu kämpfen: „Notfalls gehe ich bis vor das Bundessozialgericht.“ Sollte allerdings die Stadt einen Heimplatz zur Verfügung stellen können, dann würde es, so fürchtet Rudi Tarneden vom „Bundesverband für spastisch Gelähmte und andere Körperbehinderte“, „eng für Wolfgang“. Zwar kostet auch ein Heimplatz mindestens 5.000 DM im Monat, doch anstelle der Stadt Neuss, die sich gern mit dem Prädikat „behindertenfreundliche Stadt“ schmückt, wäre dafür der Landschaftsverband Rheinland zuständig.

Politiker, die das Wort von der „Integration der Behinderten“ wirklich ernst nähmen, müßten Wolfgang Surlemonts unabhängige Lebensweise eigentlich honorieren. Was von Verbandsmann Tarneden als „die totale Ausnahme“ angesehen wird, könnte anderen Schwerstbehinderten als hoffnungsvolles Beispiel dienen, die Gettoisierung doch noch zu überwinden. Tatsächlich leistet Surlemont auch noch ansonsten von der Gesellschaft teuer bezahlte Sozialarbeit. Mindestens 20 bis 30 Stunden pro Woche leistet der Schwerstbehinderte, der mit einem Kopfschreiber seinen Personalcomputer bedient, ehrenamtliche Arbeit in verschiedenen Selbsthilfegruppen und Behindertenklubs.

Als Vorsitzender des Vereins „Reisen mit Behinderten“ berät er andere Rollstuhlfahrer, überprüft Reiseangebote und bewahrt so nicht selten die Betroffenen vor ausgekochten, betrügerischen Tourismusstrategen, die völlig unzureichend ausgestattete Häuser als vermeintlich behindertengerechte Ferienobjekte vermarkten. Im Februar besichtigt Surlemont auf Einladung des Inhabers eine Ferienanlage für Körperbehinderte in Spanien. Ein nachhaltiger Beleg für seine Selbständigkeit, die möglicherweise in einem Heim, in das er nicht will, das er nicht braucht, das aber die Stadt Neuss billiger käme, endgültig verlorengeht.

Interessierte Zivis aus Neuss/Düsseldorf, die Surlemont helfen möchten: taz-Düsseldorf, Tel.: 0211/37077