„Es ist wie ein Trauerfall in der Familie, sogar schlimmer“

■ Der Golfkrieg hat die Stimmung in den arabischen Ländern verändert/ Die Soziologin Fatema Mernissi über die Niedergeschlagenheit in Marokko INTERVIEW

Fatema Mernissi lehrt Soziologie an der Universität Mohamad V. in Rabat. Von ihren zahlreichen Arbeiten zur Situation der Frauen in der islamischen Welt liegt auf deutsch vor: „Geschlecht, Ideologie, Islam“, Frauenbuchverlag 1987, „Der Harem ist nicht die Welt“, Luchterhand Literaturverlag 1989, „Der politische Harem“, Dagyeli Verlag 1989, „Die Sultanin“, Luchterhand Literaturverlag (erscheint März 91).

taz: Warum ist Marokko das einzige Maghreb-Land, in dem noch keine Demonstrationen gegen den Golfkrieg stattfinden?

Fatima Mernissi: Demonstrationen sind verboten. Nicht nur die Regierung, auch die politischen Parteien sind sehr vorsichtig, weil man leicht Dinge lostreten kann, die außer Kontrolle geraten könnten. Natürlich steckt allen hier noch die Revolte von Mitte Dezember in den Knochen. Die Lage ist zu gefährlich. Die Leute sind noch dabei, überhaupt die Situation zu erfassen. Auch ich war die erste Woche wie gelähmt. Doch für den gestrigen Tag hatten die politischen Parteien zum Fasten aufgerufen, verbunden mit einem Generalstreik. Um zehn Uhr wurde die Aktion mit einem gemeinsamen Lesen der „Eröffnungssure“ aus dem Koran eingeleitet. Wir haben hier übrigens mit großem Interesse den Appell der Frauen-Aktion „Scheherazade“ zur Kenntnis genommen. Er zirkuliert jetzt. Ich kenne viele, die unterschreiben werden — übrigens auch Männer, wenn das möglich ist.

Die Situation ist hier nicht mit Ihrer vergleichbar: Sie können in Deutschland die Menschenrechte einklagen, Sie gehen auf die Straßen und sagen, daß Sie gegen den Krieg sind. Hier gibt es diese Möglichkeit nicht so einfach.

Die marokkanische Armee kämpft ja auf seiten der Alliierten gegen den Irak...

Mit dieser Armee habe ich nichts zu tun. Das marokkanische Volk ist nicht nach seiner Meinung gefragt worden.

Ich will Ihnen sagen, wie weit es gekommen ist: Ich bin ja eine durchaus bürgerliche Frau, friedlich und zufrieden, wenn ich ein weißes Blatt vor mir habe und schreiben kann. Dann kann ich alles vergessen, was um mich herum passiert. Bis vor kurzem jedenfalls. Doch jetzt bin auch ich an einem Punkt, wo ich mit Überraschung feststelle, daß es in mir noch eine andere Frau gibt, die diese Bevormundung nicht mehr ertragen kann. Es ist so weit gekommen, daß selbst Saddam Hussein Dinge sagt, wie auch ich sie empfinde. Dabei habe ich ja normalerweise ganz andere Vorstellungen als er. Nur wer Strukturen schaffen würde, die demokratische Kreativität enstehen ließen, könnte die arabische Welt stärken. Aber jetzt empfinde ich wie Saddam Hussein, wenn er sagt: Er würde lieber aufrecht sterben als nichts tun.

Denken andere ähnlich?

Fast alle Marokkaner denken so, natürlich. Mein Gott, Sie müssen sich vorstellen, es ist wie ein Trauerfall in der Familie, sogar schlimmer. Normalerweise trage ich immer Lippenstift und Ohrringe, selbst wenn jemand aus meiner Familie gestorben ist — aber jetzt habe ich, wie viele Marokkanerinnen auch, aufgehört, mich zu schminken. Wir laufen wie lebende Tote durch die Straßen. Wir sind niedergeschlagen und deprimiert. Bush sagt, er wolle Kuwait befreien. Doch offensichtlich will er in Wirklichkeit den Irak zerstören, sogar das irakische Volk.

Hier kann einem passieren, daß man mit jemandem spricht, und plötzlich fängt er an zu weinen. Das geht Männern wie Frauen so, Professoren wie einfachen Leuten. Das Leben ist total durcheinander. In der Universität werden Konferenzen und Seminare abgesagt. Das Leben ist völlig paralysiert, niemand arbeitet mehr richtig.

Welche Informationsquellen gibt es in Marokko eigentlich?

Das sieht sehr düster aus. Der französische Fernsehsender TV5 und das französische Radio waren ja schon vor Ausbruch des Krieges abgeschaltet. Dabei hatten die Franzosen wenigstens Korrespondenten vor Ort. Die marokkanischen Sender nicht, sie übernehmen höchstens Berichte aus den USA oder Frankreich. Wir sind von Nachrichten wie abgeschnitten. Dabei gibt es Satelliten, aber sie werden nicht zur freien Information genutzt. Das ist eine politische Entscheidung des marokkanischen Staates, uns uninformiert zu lassen. Ich finde das skandalös.

Ich habe das Gefühl, zum ersten Mal nicht zu wissen, wer eigentlich mein Feind ist. Ist er außerhalb oder innerhalb Marokkos? In einer solchen Situation merkt man, daß die Aufklärung der arabischen Welt vor allem ein innenpolitisches Problem ist. Die Regime stehen zur Diskussion.

Und das schlimmste ist, daß wir die Stimme Amerikas auf arabisch hier in Marokko neben BBC am meisten hören, das sind die stärksten ausländischen Sender hier. Daneben gibt es auch die Deutsche Welle und Radio France Internationale, die übrigens beide besser sind. Sie machen nicht einfach die Propaganda mit, sondern lassen auch arabische Stimmen oder Positionen zu Wort kommen. Doch Voice of America und BBC berichten triumphal, wieviel Kilo Bomben gerade wieder abgeworfen wurden, als wenn keine Menschen unten auf dem Boden leben würden. In diesen Sendern ist man sich offensichtlich nicht bewußt, was wir empfinden, wenn wir das hören. Das macht die Menschen hier krank, deswegen sind sie so niedergeschlagen. Trotzdem werden diese Sender gehört.

Gestern wollte ich in einem kleinen Laden schnell Nägel kaufen. Im Laden waren drei Männer und hörten die arabische BBC-Sendung. Nägel hat mir keiner von ihnen verkauft, statt dessen flüsterte mir einer zu: „Du kannst mithören oder wieder gehen.“ Natürlich habe ich mitgehört... Interview: Maghreb- und Nahost-

Agentur/Thomas Hartmann