Der Begriff „lebenslänglich“ ist nicht zu begreifen

■ Aus dem Beitrag der Ehefrau eines „Lebenslänglichen“

Anfang 1979 trat ich als Betreuerin in sein Leben — er hatte bereits zwei Jahre Haft hinter sich und „lebenslänglich“ vor der Nase. Im Dezember 1979 war das Urteil „im Namen des Volkes“ ergangen. Trotz allem oder dennoch bekannten wir uns zueinander und besiegelten dies Ende 1983 durch „Hochzeit im Knast“.

Vor diesem Schritt stand meinerseits die gründliche Prüfung: Würde ich die Kraft aufbringen, diese Verbindung über Jahre — wer weiß, wie viele? — durch zu tragen, nur angewiesen auf Briefe und wenige Stunden Besuch? Würde es mir auf Dauer gelingen, die Haftfrustrationen meines Mannes nicht nur aufzufangen, sondern selbst zu ertragen — die möglichen Haftfolgen auf mich zu nehmen, um meinen Partner Schritt für Schritt in das Leben in Freiheit zurückführen zu können? Herz und Verstand sagten: Ja.

Was lag in diesen Jahren?

Es begann mit Briefen. Von Anfang an verstanden wir gegenseitig, mehr zwischen den Zeilen zu lesen, als da vordergründig stand. Im Laufe der Zeit lernten wir, uns in Metaphern zu verständigen, um ein wenig vor der Zensur nur uns gehörende Gedanken zu bewahren.

Lebenslänglich — das Urteil war gefallen. [...] Doch wie wenig wir wirklich begriffen! Nach Aufarbeitung der Vergangenheit machten wir Pläne für die Zukunft. Unser Zeitmaß waren nicht endlose Jahre — nur das „irgendwann“.

Nicht nur Pläne und Träume bestimmten die Zeit. Um geistig wach zu bleiben und sich weiterzubilden, die Zeit der Haft sinnvoll zu nutzen, absolvierte mein Mann in BW den Hauptschulabschluß, begann nach Verlegung nach Nordrhein-Westfalen einen Fernkurs über Fachoberschulreife zum Abitur, dessen Genehmigung wir allerdings erst erkämpfen mußten.

Immer wieder neue Hoffnung auch durch neue Möglichkeiten. Paragraph 57a kam ins Spiel. Mündliche Versprechen seitens des Vollzugs, in der Ausführung wieder zurückgezogen. Ein Wechselspiel von Ruhe und Sturm, Aufleben und Frustration, gefährlich mündend in Resignation.

Nach etwa sieben Jahren Haft kam der Punkt, daß seitens meines Mannes die Resignation überwog — ein Hauch des Begreifens... Rückzug in sich selbst. Sprachlosigkeit, Unfähigkeit der Artikulation. Angst vor Menschen, neuen Begegnungen. Errechnung der Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten einer Zeit, die schon hinter ihm lag, nicht errechenbar in dem, was noch vor ihm liegt. Es schien ein Prozeß der Selbstzerstörung zu sein. Wie erstarrt, wie in einer Art von Winterschlaf! Vielleicht auch Versuch, sich selbst zu finden? Schweigephase — über Jahre!

Nie habe ich stärker meine eigene Ohnmacht erlebt. Er stand am Abgrund — ich versuchte ihn zu halten, aufzuwecken — und mußte lernen und begreifen, nichts tun zu können — nur er selbst. Nie war die Gefahr der Entfremdung und die Angst davor so stark wie in dieser Zeit.

[...] Endlich durchbrach mein Mann diese Schweigephase, das Leben und ich hatten ihn wieder. Fast möchte ich sagen, in einer verwandelten Form. Selbstwert, Selbstbewußtsein, innere Stärke und Wille zum Durchhalten prägten das Bild. Ein Arbeitsplatz wurde ihm angeboten. Er griff zu. Nunmehr seit Jahren werden ihm Einsatz und auch Verantwortung abgefordert.

Mit neuem (Über-)Lebenswillen belebte sich auch wieder unsere schriftliche Kommunikation. Da wir uns nicht aus dem Alltag kennen, diesen Alltag jedoch einmal gemeinsam leben wollen, war und ist es um somehr erforderlich, Erfahrungen, Handlungsweisen, Denkungsarten miteinander auszutauschen. Phantasievoll fanden wir immer neue Möglichkeiten, diesen Austausch spannend und faszinierend zu gestalten. Unerschöpfliche Entdeckungsreisen, Expeditionen ins Unbekannte. Gestartet — wieder abgebrochen. Mitentdecker galt es abzublocken. Immer wieder wurde uns letztlich bewußt, auf diese Weise fotokopiert, soziologisch-psychologisch ausgewertet in den Akten zu landen.

Briefe wurden zur Oberfläche — oder blieben ungeschrieben. Das wirklich Wichtige beschränkt(e) sich immer mehr auf persönliche Gespräche — in einem Umfeld, das „Insider“ kennen, „Outsider“ sich kaum vorstellen können! Das „ausreichen“ zu lassen erfordert doppelte Kraft! Und jeder in dieser Form gemeinsam gegangene Schritt ist ein Erfolg — der Mut und Kraft für den nächsten vermittelt! [...]

Heute bleibt aus meiner Sicht das Fazit, daß der Weg gut war, den wir eingeschlagen haben. Mein Mann hat mit seiner Frau an der Seite die Gefährdung des Vollzugs „siegreich“ überstanden — und sei es vielleicht auch nur durch das Wissen, Verantwortung für den Menschen an seiner Seite zu tragen.

Seit zwei Jahren erfolgen Ausführungen in Beamtenbegleitung. Eine privat georderte Stellungnahme hinsichtlich Persönlichkeitsentwicklung, Zukunftsprognose — von einem anerkannten Gutachter erstellt — befürwortet „weitere Vollzugslockerungen im Hinblick auf die in einigen Jahren zu erfolgende Entlassung“. Reaktion seitens des Vollzugs? Die Mühlen mahlen äußerst langsam — vor allem bei „Lebenslänglichen“ bleibt ja viel Zeit.

Der Bundesjustizminister spricht von den Möglichkeiten des Paragraphen 57a und des Gnadengesuchs — und sieht die Beibehaltung der lebenslänglichen Freiheitsstrafe als unverzichtbar an.

Paragraph 57a steht erfahrungsgemäß überwiegend auf dem Papier, die Öffentlichkeit blendend. Trotz bester Voraussetzungen rechnen wir uns keine Chancen aus. Uns fehlen „Name/Status/Lobby“. Was bei der Überprüfung immer noch „schwerer“ wiegt, das wissen wir auch — wonach sich die „Überprüfung“, basierend auf der Ausgangslage, im Grunde selbst aufhebt.

Ist die Möglichkeit zerschlagen, werden wir andere Wege suchen. Wer die Hoffnung aufgibt, gibt sich selber auf! Wichtiger als die Siege selbst ist stets der Weg dorthin!

Der Begriff „lebenslänglich“ ist nicht zu begreifen — zu leben ist dieses Unbegreifliche nur Schritt für Schritt! [...] A.B.-J., übernommen aus der Knastzeitschrift 'Kuckucksei‘, JVA Schwerte