Das Trauma von Weimar

Aus Anlaß der Inszenierung von Grillparzers „König Ottokars Glück und Ende“ ein Gespräch mit Wolfgang Engel  ■ Von Dieter Bandhauer

Dieter Bandhauer: Ich kann davon ausgehen, daß für Sie Franz Grillparzer nicht zur Schullektüre gezählt hat. Wann sind Sie auf das Werk dieses österreichischen Nationaldichters gestoßen?

Wolfgang Engel: Die Themen, die die Dramatiker des 19.Jahrhunderts behandelten, interessieren mich schon seit langer Zeit, weil sie in einem sehr modernen Maße das Verhältnis des Individuums zur Macht, zur Gesellschaft beschreiben. Grillparzers Trauerspiel Ein treuer Diener seinem Herrn sollte man auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sofort spielen, es ist nämlich die Opfer-Täter-Geschichte par excellence.

Als ich vor zwei Jahren das Angebot bekam, in Wien am Burgtheater zu inszenieren, dachte ich mir, in der Höhle des Löwen müßte ich den österreichischen Nationalheiligen, sprich Grillparzer, machen. Daß die Aufführung im Jubiläumsjahr von Grillparzers 200.Geburtstag stattfindet, war mir damals gar nicht bewußt. Ich habe durch dieses Angebot die Chance genutzt, mich intensiver mit einem Dramatiker zu beschäftigen, den ich bis dahin vernachlässigt hatte. Es gab immer wieder auch Überlegungen, König Ottokars Glück und Ende für Dresden zu inszenieren. Das Thema dieses Stücks — ein König wird zum Aussteiger, weil die Macht, die er auf seinem Schädel anhäuft, ihn in seinem Menschsein nicht befriedigt, und ab einem bestimmten Punkt hält ihn die ganze Welt für einen Feigling, einen Versager, und dabei ist er ein Mensch, der Vernunft gewonnen hat und die Macht abgibt — dieses Thema finde ich ungeheuer spannend.

Ottokars Ende scheint Sie mehr zu interessieren als sein Glück?

Der erste Akt ist das Glück, und schon das ist in sich gebrochen, da das Glück auf einem Verbrechen beruht. Die folgenden vier Akte sind der lange Weg zum Ende — und der interessiert mich mehr. Die Zerrissenheit der Figuren, die ich bei Grillparzer vorfinde, die interessiert mich. Das sind ganz moderne Menschen, das sind eigentlich wir, die wir ja auch alle aus den Definitionen des 19.Jahrhunderts kommen. Die Schriftsteller des 19.Jahrhunderts hatten ein großes Trauma, ein Weimar-Trauma, sie wollten Weimar wiederholen, zumindest in der Form. Es ist ihnen aber nicht gelungen, weil sie — in Vorwegnahme des 20.Jahrhunderts — Menschen mit einer inneren Zerrissenheit waren und Figuren mit einer Psychologie auszustatten imstande waren, mit all dem, was noch nicht entdeckt war zu Grillparzers Lebzeiten. Um mit Kleist zu sprechen, der ganze Schmutz und der ganze Glanz einer Seele, der taucht bei ihnen schon auf.

Sie haben in einem Interview für das Jahrbuch 1990 von 'Theater heute‘ gesagt: „Ich denke immer noch, Kunst muß subversiv sein.“ Ist dies auch der richtige Zugang zu Grillparzer?

Das hat natürlich auch etwas mit Biographie, mit fehlenden Freiräumen zu tun. Anders habe ich Theater nie verstehen können. Ich bin derzeit auf dem Weg: Ich muß nämlich erst herausfinden, ob demokratische Verhältnisse mich dazu befähigen, Regisseur zu sein. Ich bin das geworden in einer Diktatur oder unter einem ganz bestimmten Druck. Theater war für mich die einzige Möglichkeit, um kreativ zu werden. Und Kunst war für mich bisher nicht dazu da, um Geld zu verdienen. Das muß schon mehr sein, und ich werde herausfinden, ob das weiter so geht oder nicht.

Meine Frage hatte den Hintergedanken, daß mir Ihr Anspruch im Widerspruch zu Grillparzers Werk zu stehen scheint. Seine Dramen enthalten doch einen Kanon konservativer Werte: von privater Demut bis zur Staatsräson?

Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob das, was Sie sagen, nicht eher ein Rezeptionsverhalten ist oder ob das in den Stücken steht. Wir haben ja gerade bei diesen Dichtern ein Rezeptionsverhalten verinnerlicht und viel weniger die Texte selbst befragt. Ich sage es mal so: Der Buchstabe ist tot. Wenn der Schriftsteller über eine Möglichkeit verfügt, Texte ambivalent erscheinen zu lassen, dann wird man ihre Texte noch in Jahrhunderten zur Hand nehmen und ganz unterschiedlich interpretieren. Diese merkwürdige Sucht, sich auch in der Kunst zu objektivieren, das ist das, was uns daran hindert, einem Text auf den Grund zu kommen. Ich nehme für mich nicht in Anspruch, mit einem Text Endgültiges zu sagen, sondern das, was ich im Moment meine. Und natürlich behaupte ich immer, daß ich aus einem Text etwas herauslese und nicht etwas hineinlese.

Ich will ein Beispiel anführen: Wenn Rudolf von Habsburg in Grillparzers Ottokar sagt, daß er nicht mehr der Graf von Habsburg, auch nicht mehr Rudolf sei, sondern in seinen Adern fließe Deutschlands Blut, habe ich den Verdacht — wenn ich mit meinen Erfahrungen von Geschichte 160 Jahre später an diesen Text herangehe —, daß sich hier eine Figur entmenschlicht, daß sie sich ideologisiert, bei aller Redlichkeit. Das ist ein Zitat und insofern anekdotisch. Doch eine solche Assoziation habend, versuche ich dies mit allem anderen, was diese Figur zu sagen hat, in ein Verhältnis zu setzen. Das Theater, das Rudolf veranstaltet, indem in der Früh alle in sein Zelt schauen dürfen, um zu sehen, wie der Kaiser arbeitet — das ist hinreißend, wie sich da jemand als Volksherrscher inszeniert. Was ist das für eine Art von Leutseligkeit, von Moral?

In seiner Selbstbiographie gibt Grillparzer folgenden Grund an, warum er bei Ottokar keine Angst vor der Zensur hatte — daß es dann doch zwei Jahre von der Behörde blockiert wurde, ist ein anderes Kapitel. Er schrieb also: „Wenn das regierende Haus eigens einen Schmeichler bezahlt hätte, (hätte) dieser der Handlung keine günstigere Wendung geben (können), als die dramatische Notwendigkeit von selber aufgedrungen hatte.“

Autoren so heranzuziehen, halte ich nicht für richtig. Zum einen sind das auch nur Menschen; wir wissen 160 Jahre später nicht, welche Art von Kompromissen sie eingehen mußten, um leben zu können. Zum anderen kann mich das, was ein Autor zu seinem Stück gemeint hat, gar nicht interessieren, weil ich jeden Text, den ich inszeniere, für einen Gegenwartstext nehme. Wenn ich die Tagebücher von Hebbel oder die Selbstzeugnisse von Grillparzer lese, dann merke ich auch, was sie für arme Schweine gewesen sind. Diese Sicht entwickle ich aber von meiner persönlichen Warte aus. Ich bin spätestens seit dem Umsturz in der DDR — Revolution sage ich mit Absicht nicht — diesbezüglich ganz vorsichtig. Wie Außenstehende ehemalige DDR-Bürger behandeln und beurteilen, finde ich einfach zum Kotzen, weil sie nicht wissen, in welcher Situation diese Leute steckten.

Vielleicht liegt Grillparzers Aktualität gerade in seiner Anpassungsfähigkeit, in der Konservativität?

Wie ist nicht über die Schlüsse der Shakespeare-Stücke gerätselt worden, da gibt es die wahnsinnigsten Theorien, daß all die Prinzen, die am Ende seiner Dramen als neue Herrscher auftreten, Verneigungen vor den Tudors wären. Diese Zugeständnisse seien notwendig, wird gesagt, um all das gegen die Macht sagen zu können, wie dies vorher in den Stücken passiert. Ich weiß nicht, ob man das mit Anpassungsfähigkeit bezeichnen kann. Das hat so einen negativen Beigeschmack. Vielleicht hat Grillparzer aber bloß die Anpassungsfähigkeit seiner Zeit beschrieben, und dann ist das überhaupt nicht konservativ. In Ottokar sind die Großen zugange: Rudulf von Habsburg und der König von Böhmen, Ottokar. Alle anderen Figuren aber sind wie zwischen zwei Mühlsteinen. Die müssen — weil sie die Macht nicht haben — aufpassen, daß sie nicht zermahlen werden. Sie müssen sich ständig in ein Verhältnis zu den beiden Herrschern setzen. Da steht es mir nicht zu zu sagen, der und der ist ein Opportunist geworden.

„Ottokars Glück und Ende“ ist ja kein einheitliches Stück; es ist eine historische Tragödie, enthält aber ebenso Elemente des bürgerlichen Trauerspiels und sogar Komödienmotive.

Ich würde sagen, es ist gebrochen. Der erste und zweite Akt ist ziemlich dicht im Sinne einer Komposition. Ich meine die Aufzüge der Gesandtschaften, die beim Inszenieren große Schwierigkeiten verursachen. Spannender sind aber sicherlich die Brüche in den folgenden Akten — das, was nicht geschrieben ist, das Schweigen Ottokars, der ständige Umschwung von Stimmungen. Es sind Szenen enthalten, die von Ibsen sein könnten. Und so manche Szene ist Shakespeare nachempfunden — natürlich ohne seine Größe zu haben. Die Figuren sind aber in ihrer Kleinkariertheit moderner als die Figuren bei Shakespeare, und daraus entwickeln sich die wahnsinnigsten und komischsten Geschichten.

Wie schauen Ihre Pläne für die Zukunft aus?

Im Anschluß werde ich Hebbels Judith in Zürich inszenieren, und dann mache ich eine letzte Inszenierung in Dresden: Goethes Stella. Und ab 1.September bin ich Regisseur in Frankfurt am Main.

Warum verlassen Sie Dresden?

Ich könnte es mir einfach machen und sagen, zehn Jahre an einem Theater sind genug. Höchstens sieben Jahre, hat Gründgens gesagt, weil sich dann sich die Geheimnisse verbraucht haben. Bewegung war an den Theatern in der ehemaligen DDR so gut wie gar nicht möglich. Das hatte seine Vorzüge, indem man darauf angewiesen war, miteinander umzugehen, ob man wollte oder nicht, und seine Nachteile, indem Veränderung, im Sinn von Produktivität durch neue Leute, nicht möglich war. Der Hauptgrund für meinen Weggang besteht darin, daß mir das Echo im Ensemble auf meine Frage nach Risiko und Veränderung — zwei Begriffe, die ich für eine Grundvoraussetzung für unseren Beruf halte — zu gering war. Und die Handvoll Leute, die mit mir einer Meinung waren, alles in Frage zu stellen nach dem Umbruch, die nehme ich mit nach Frankfurt.

Hier klingt aber eine ziemlich pessimistische Einschätzung der Möglichkeiten für die Gebiete der ehemaligen DDR durch.

Es werden die besten Schauspieler in den Westen gehen, weil sie bessere finanzielle Angebote erhalten — wie in jedem anderen Bereich auch. Was dort stattfindet, hat — solange es keine Hoffnung gibt, daß es zu einer Angleichung kommt — sicherlich etwas mit einer Verödung zu tun. Ich finde es nicht schön — aber es findet eben statt. Insofern meine ich das nicht pessimistisch. Das ist ähnlich wie in der Politik. Man vermeint sich objektiv zu verhalten und macht das in Wirklichkeit aus den privatesten Gründen. Ich versuche, keine Philosophie aus meinem Weggang zu machen. Wenn ich diese Art von Bewegung an meinem Theater nicht erreiche, dann bewege eben ich mich. Ich wollte nicht bei einer langsamen Form der Veränderung mitmachen. Ich hätte dann noch mindestens fünf Jahre bleiben müssen, um etwas zu bewirken. Dann bin ich 53 — ich weiß nicht, ob ich dann noch gesprungen wäre. Und in Dresden sterben wollte ich nicht.