Kampagne gegen die Stasi-Aktenbehörde

Bonner Ministerialbürokratie, Verfassungsschutz, Bundesländer und Springer-Presse vereint gegen die Ostberliner Bundesbehörde und ihren Chef Jochen Gauck/ Geringe Chancen für eine gesetzliche Verankerung des Akteneinsichtsrechts/ Formulierungen des Einigungsvertrags spielen keine Rolle mehr  ■ Von Petra Bornhöft

Von einem „bedauerlichen Irrtum“ sprachen die Ministerialen, als Anfang Oktober eines Morgens an der ehemaligen Stasizentrale in der Ost- Berliner Normannenstraße das Türschild „Bundesarchiv“ hing. Welcher Geist sich des zentralen Archivs mit Millionen Stasi-Akten bemächtigen wollte, ist bis heute ungeklärt. Drei Monate später forderte das Bonner Innenministerium jetzt den Präsidenten des Bundesarchivs, Professor Friedrich Kahlenberg, auf, ein Büro im Domizil des Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Stasi-Akten einzurichten. Mitnichten ein erneuter „Irrtum“: Für den Fall eines wie auch immer herbeigeführten Rücktritts des noch von der Volkskammer bestimmten Chefs Jochen Gauck könnte die Behörde dann erst einmal von Kahlenberg geführt werden.

Die Kampagne gegen die Stasi- Aktenbehörde und ihren Präsidenten begann mit dem erzwungenen Rücktritt des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière von seinem Bonner Posten als Minister ohne Geschäftsbereich. Gaucks deutliche Worte zu de Maizières Stasi-Vergangenheit gelten als der Sündenfall des Rostocker Pfarrers.

Nur einen Tag später plädierte der hessische Verfassungsschützer Günther Scheicher öffentlich für Gaucks Absetzung. Und Eduard Lintner, deutschlandpolitischer Sprecher der CDU, bezeichnete es als „unerträglich“, daß angeblich „gezielt“ Einzelfälle aus den Stasi-Akten ausgebreitet würden. In das gleiche Horn stießen Bayerns Ministerpräsident Max Streibl (CSU) und der CSU- Landesgruppenchef Wolfgang Bötsch: eine „Zentrale Untersuchungsstelle“ müsse her.

Was darunter zu verstehen ist, erläuterte der innenpolitische CDU- Sprecher Johannes Gerster: Neben der Gauck-Behörde soll eine eigene „ermittelnde Behörde" geschaffen werden, ausgestattet mit einem Zugriffsrecht auf die Stasi-Akten. Dabei geht es nicht um strafrechtliche Ermittlungen, sondern um die Überprüfung der ehemaligen DDR-Bürger hinsichtlich ihrer Eignung etwa für den öffentlichen Dienst. Diese zusätzliche Behörde soll nach Gerster zwar nicht beim Verfassungsschutz angesiedelt sein, aber dessen Know-how übernehmen, sprich: das Personal.

CDU will „das Gesetz des Handelns übernehmen“

Die Stasi-Aktenbehörde, die inzwischen in der Ostberliner Behrenstraße ihren Dienstsitz gefunden hat, würde dadurch in ihrer Bedeutung erheblich gemindert. Die Gauck-Behörde hat nämlich in Bonner Augen einen Fehler: Ihre Mitarbeiter verteidigen ihre Unabhängigkeit ebenso hartnäckig wie ihre Interpretation des Einigungsvertrages, wonach Geheimdienste keinen Zugriff auf die Stasi-Dossiers haben. Grund genug für die CDU, in Gestalt von Johannes Gerster anzukündigen, die Regierung werde jetzt „das Gesetz des Handelns übernehmen“.

Darauf drängen offenbar auch verschiedene Ministerpräsidenten der Länder. Auf ihrer letzten Konferenz sowie auf der Justizministerkonferenz gingen einige Beteiligte zum direkten Angriff gegen die Gauck-Behörde über: Sie arbeite ineffizient, blockiere vieles und müsse dezentralisiert werden.

„Effizient“ arbeitet momentan wohl kaum ein Amt auf dem Boden der ehemaligen DDR. Im Dezember teilte Direktor Hans Jörg Geiger mit, bisher seien rund 10.000 Anträge auf Personenüberprüfung eingegangen. Gleichzeitig verfügt die Behörde in der Zentrale und in den Außenstellen erst über rund hundert Mitarbeiter. Sie alle ersticken fast in Papierbergen. Zum einen sind es die Auskunftsanträge, zum zweiten meldeten sich auf Stellenausschreibungen 8.500 BewerberInnen.

Die Einstellung des Personals gestaltet sich unter anderem deshalb so kompliziert, weil der in jedem Einzelfall zustimmungspflichtige Hauptpersonalrat des Bonner Innenministeriums nur einmal im Monat tagt. Diesem Gremium gestandener Westbürokraten sagt die Bonner Szene keine besondere Schnelligkeit nach. Im Gegenteil: Insider aus der Provinz berichten, daß auch von dieser Seite Jochen Gauck offen abfällig begegnet wird, weil er „Osthandwerker als Dienststellenleiter“ beschäftigen wolle.

Gauck hat immer darauf bestanden, auch Mitglieder der Bürgerkomitees zu übernehmen, die sich ihre Kompetenz nicht durch eine lupenreine „Laufbahn“, sondern als Auflöser des Stasi-Apparates erworben haben.

Gewichtiger indes der Vorwurf aus dem Innenministerium: „Gauck hat seine Leute nicht im Griff.“ Vermutet werden gleich mehrere „Lecks“, aus denen die Stasi-Enthüllungen in die Medien tropfen sollen. Als unverzeihlich gilt Gaucks öffentliches Auftreten kurz vor de Maizières Rücktritt. Seine Worte ließen kaum Zweifel an dem vom 'Spiegel‘ geäußerten Verdacht, der Politiker sei identisch mit dem informellen Stasi-Mitarbeiter „Czerny“.

Davon überzeugt schien übrigens auch Innenminister Schäuble, dem Gauck das Material der Behörde vorgelegt hatte. Schäubles sehr vorsichtige Worte vor der Kamera hielten die 'Springer‘-Presse indes nicht davon ab, umgehend nach Möglichkeiten der Diskreditierung zu suchen. Rasch kam der 'Welt‘ eine spezielle Idee: Sie kolportierte „Gerüchte“ über eine vermeintliche Stasi-Kollaboration von Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD).

Die ohne einen Hauch von Beweisen gedruckte und vielfach nachgedruckte Geschichte zeitigte die gewünschten Folgen. Ein Schwall von Politikererklärungen und Leitartikeln gegen die „Einzelenthüllungen gefälschter Akten und Aussagen von x-beliebigen Stasi-Majoren“ sowie 'Bild‘-Stories über das vermeintliche Chaos in der Gauck-Behörde.

Angeblich liegen der CDU Informationen vor, denen zufolge de Maizière nach der Überprüfung des Stasi-Vorwurfs als „makellos“ gelte. Bislang konnte de Maizière allerdings nicht beweisen, daß er mit der Stasi nur über das Wetter oder öffentliche Gottesdienste geplaudert hat. Ein Teil seiner Akten galt als verschwunden. Sind sie wieder aufgetaucht? Fest steht nur, daß Ex-Innenminister Diestel, der bekanntlich während seiner Amtszeit die Oberhoheit über das Stasi-Archiv besaß, genug Gründe hat, seinem ehemaligen Kabinettschef dankbar für den Schutz in Notzeiten zu sein. Deshalb ist es wohl schlicht menschlich, daß Diestel de Maizière aufgefordert hat, „sein zeitweiliges Nicht-Tätigsein umgehend zu beenden“.

Ähnlich aktiv wie Diestel in Brandenburg arbeitet man in anderen Bundesländern daran, die mißliebige Gauck-Behörde ins Abseits zu manövrieren. Mit Ausnahme von Berlin hat noch keine Landesregierung in der Ex-DDR einen Landesbeauftragten für die Stasi-Akten ernannt. Gemäß der „Vorläufigen Benutzerordnung“ sollen sie Gauck „beraten und unterstützen“. Daran ist zumindest einigen neuen Bundesländern nicht gelegen. Sie wollen die Verwaltung der Stasi-Akten dezentralisieren und haben sich deshalb zum Teil bereits brieflich an Bonn gewandt.

Gegen die Dezentralisierung hatte sich die Volkskammer seinerzeit ausdrücklich gewandt, auch der Einigungsvertrag enthält nichts dergleichen, und nach dem Bundesarchivgesetz ist das Ministerium für Staatssicherheit selbstverständlich eine zentralstaatliche deutsche Behörde, deren Aktenhinterlassenschaften nicht auseinandergerissen werden dürfen.

Seinerzeit hatten Experten und Politiker auch aus pragmatischen wie politischen Gründen sich für eine zentrale Behörde entschieden: Die Suche von verstreuten Unterlagen und das Auskunftsverfahren sind so einfacher; und die Aufklärung des gesamten Überwachungs- und Unterdrückungsapparates verlangt eine Struktur, die den Befehlswegen und Verästelungen der Stasi-Krake adäquat ist. Wenn das Bonner Innenministerium sich jetzt für den Gedanken einer Dezentralisierung zu erwärmen beginnt, so nach Ansicht von Kritikern am Rhein nur deshalb, „weil dies eine weitere Gelegenheit ist, die Gauck-Behörde abzudrängen“.

Dieser Intention entspricht auch die anhaltende Unklarheit darüber, mit wem und nach welchen Kriterien die Bundesregierung die fünf Mitglieder eines im Einigungsvertrag vorgesehenen Beirats „bestellt“, die Gauck „beraten“ sollen. Mindestens drei Personen sollen aus der Ex- DDR kommen. Die Chance, integre und unabhängige Leute aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zu gewinnen, ist denkbar gering. Die Parteien sind dabei, dem politischen Proporz Vorrang zu gewähren. Für die Union und das Innenministerium geht es bei dieser Personalfrage auch darum, den gewüschten legalen Zugriff des Verfassungsschutzes auf die Stasi-Akten zu realisieren.

Für das erforderliche öffentliche Klima sorgt VS-Präsident Gerhard Boeden. Sein Amt ist in den Besitz der MfS-Gehaltsliste mit 103.000 Namen der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter gelangt, darf diese offiziell nicht benutzen, weigert sich aber strikt, die Listen an Gauck herauszugeben, was er nach der derzeitigen Rechtslage unaufgefordert tun müßte. (Inzwischen brüstet sich das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz öffentlich, bereits eine Kopie der Gehaltsliste zu besitzen und laufend zu benutzen.)

Boeden läßt schreiben. Gern von der 'Welt‘, zuletzt von der 'FAZ‘. Dort verlangte er, das Parlament solle sich „die Bedürfnisse der Sicherheitsbehörden erläutern lassen“. Auf einen Nenner gebracht: Ran an die Akten und neue, faktisch polizeiliche Befugnisse. Den dreisten und sachlich durch nichts gerechtfertigten Argumentationen des Verfassungsschutzes stemmt sich, so scheint es, als einziger Politiker Burkhard Hirsch, Rechtsexperte der FDP, entgegen: „Wenn sich durch das Ende des Kalten Krieges und den Zusammenbruch des Linksextremismus die Aufgaben einer Behörde verringern oder wegfallen“, so Hirsch kürzlich in einem Interview, „dann braucht sie nicht neue Aufgaben sondern weniger Personal“.

Fast alle Parteien haben Leichen im Keller

Aber auch Hirsch hält sich in einem Punkt auffallend zurück: FDP und CDU/CSU schweigen eisern zu dem von Gauck und Geiger mehrfach geforderten Akteneinsichtsrecht. Stillschweigend versuchen sie an der Praxis der „Auskunftserteilung“ festzuhalten. Das wird in den nächsten Wochen einer der zentralen Streitpunkte in der Debatte um die Entwürfe zu dem Aktengesetz werden.

Noch glaubt man in der Ostberliner Behrenstraße, die Politiker überzeugen zu können: „Man muß an die Opfer der Stasi denken“, sagt ein Mitarbeiter, „die haltlosen Verdächtigungen hören nur dann auf, wenn die Akten einzusehen sind.“ Die Crux: alle Bundestagsparteien, mit Ausnahme der winzigen Gruppe Bündnis 90, haben ihre Stasi-Leichen im Keller. Allein 83 Bundestagsabgeordnete harren des Überprüfungsergebnisses aus Berlin.

Jochen Gauck ist nicht blind, ein wenig eitel, aber mit seinem Sessel verbindet ihn keineswegs der Bürokratenklebstoff. Zudem neigen Theologen dazu, an das Gute im Menschen zu glauben. Wird er das auch noch tun, wenn er das in Bonner Journalistenkreisen seit einiger Zeit kursierende „Gerücht“ schwarz auf weiß liest? Der I-Punkt der Kampagne gegen ihn und die verhaßte Behörde besteht nämlich darin, Gauck als angeblichen informellen Stasi- Mitarbeiter zu denunzieren. Der entsprechende Text soll schon formuliert sein. Wie gesagt, das Nachfolgeproblem ist gelöst.