Ein Urteil gegen die Berliner Justiz

■ Zur Einstellung des Schmücker-Verfahrens

Ganze 591 Verhandlungstage, 15 Jahre, vier Prozesse, drei Entscheidungen des Bundesgerichtshofes, zehn Millionen DM an Prozeßkosten und sieben Jahre U-Haft für die Angeklagte Schwipper — die längste U-Haft in der deutschen Justiz: Das Schmücker-Verfahren war das längste und teuerste Verfahren in der deutschen Justizgeschichte, das jetzt endlich in Berlin eingestellt wurde. Auch sein Ende selbst wird Geschichte machen. Der 18. Großen Strafkammer und ihrer Vorsitzenden Ingeborg Tepperwien gebührt die Ehre, daß sie das Verfahren nicht still beerdigt, sondern mit einem eindeutigen Urteil abgeschlossen haben — einem eindeutigen Urteil über die Berliner Justiz. In der Einstellungsbegründung wird explizit die Komplizenschaft von Richtern, Staatsanwälten, Ermittlungbehörden und Verfassungsschutz dafür verantwortlich gemacht, daß der Mord an dem 22jährigen Studenten Ulrich Schmücker, der als Lockvogel des Verfassungsschutzes benutzt wurde, um an die Stadtguerilla heranzukommen, nach menschlichem Ermessen nie mehr aufgeklärt wird.

Nun kann man sagen, daß sich nach drei gescheiterten Versuchen, mit dem Rechtsstaat Schlitten zu fahren, rechtsstaatliche Prinzipien endlich durchgesetzt haben. Aber ein solches Resümee wird der politischen Bedeutung dieses Einstellungsbeschlusses nicht gerecht. Wir blicken auf das Feld eines beispiellosen fünfzehnjährigen Krieges der Strafverfolgung und der Strafjustiz gegen den Rechtsstaat zurück. Was wurde da alles aufgeboten: das Verstecken von Akten, von Zeugen, von solchen Beweisstücken wie etwa der Tatwaffe; das Abhören der Anwaltsbüros; die Absprachen zwischen Gericht und Verfassungsschutz hinter dem Rücken der Prozeßbeteiligten und natürlich: jede Menge politischer Druck. Es bedurfte zäher Pressearbeit, es bedurfte der Arbeit parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, es bedurfte letztendlich eines Regierungswechsels, um diese Verschwörung der staatlichen Behörden gegen den Rechtsstaat abzuwehren. Dennoch ist jetzt die Rechtsstaatlichkeit nicht nur wiederhergestellt, sondern auch durchgesetzt geworden. Sie ist kein Abstraktum, auf die man sich bloß beruft, kein gesetzliches Regelwerk, sondern Ergebnis eines Streites. Das Schmücker-Verfahren ist zu einem Schlüsselprozeß für die politische Justiz geworden. Der Preis ist ein ungesühnter Mord und viel verlorene Lebenszeit, die durch Geld nicht entschädigt werden kann. Aber wenn in den Amtsstuben künftig das Trauma des Schmücker-Verfahrens den Übermut der Amtsinhaber einschüchtern wird, so ist — letztendlich — die Bilanz positiv. Klaus Hartung