Durchs wilde osmanische Reich

■ David Leans Wüstendrama »Lawrence von Arabien« im Babylon-Ost

Über seine Kriegszeit in Nahost schrieb T.E. Lawrence, bekannt als Lawrence von Arabien, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ein dickes Buch. David Lean machte gern aus dicken Büchern lange Filme: Die Brücke am Kwai (170 Min.), Dr. Schiwago (200 Min.), Ryans Tochter (207 Min.), Die Reise nach Indien (167 Min.). Lawrence von Arabien wurde Leans längstes Monumentalwerk: gute 240 Minuten, von denen ihm aber rundweg zwanzig abgeschnippelt wurden. Die Produzentenschere hatte es vor allem auf Szenen abgesehen, in denen Wüste pur gezeigt wurde. Gespräche zur kriegspolitischen Lage mußten ebenso dran glauben.

Aber der Reihe nach: Während des Erstens Weltkrieges war der Nahe Osten ein sogenannter Nebenkriegsschauplatz. Das Osmanische Reich, die spätere Türkei, stand als Verbündeter an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns. Neben dem regulären Kampf gegen osmanisches Militär verfolgte die englische Kriegsführung die Strategie, einen arabischen Aufstand zu schüren. Als britischer Agent des Arab Bureau in Kairo wird Thomas Edward Lawrence zu einer Hauptfigur des Nebenkriegsschauplatzes. 1916 tritt der Archäologe und Sprachforscher an den Emir von Mekka heran und organisierte mit dessen Sohn Ali den Aufstand gegen die türkische Herrschaft. Lawrence und Ali werden zu Top-Guerilleros ihrer Zeit. Hier und da kleine, aber wirksame Überfälle, das Ausschalten militärischer Posten [Auch in Kriegszeiten und zu Zeiten der Kriegssprache: Ausgeschaltet werden Lichtschalter oder Maschinen, und militärische Posten sind meines Wissens Menschen, die werden dabei getötet! So viel zur Sprachverwahrlosung. d. säzzer], die Unterbrechung der Nachschublinien und die Zerstörung wichtiger Bahnstrecken. Der Aufstand kann eine hohe Effizienz vorweisen, deren Höhepunkte die Besetzung Damaskus' durch die geeinten Beduinenstämme ist.

Als es Ende letzten Jahres im Filmpalast Berlin eine Sondervorführung der rekonstruierten 240-Minuten-Fassung gab (das Babylon zeigt die 221-Min.-Fassung) geriet die Rahmenveranstaltung zum folkloristischen Stelldichein. In den Kinosesseln saßen Kostümscheichs, eine Karawane aus zirkusechten Kamelen und Rindviechern führte das Sondervorstellungspublikum anschließend über den Kudamm vom Filmpalast zur Budapester Straße, wo eine Wüstenparty angekündigt war — etwas Sand auf dem Boden und Lawrence-Drinks für 10 DM. Damals war die Welt noch in Ordnung. Ein derartiges exotisches Allerlei ist bei der heutigen Vorführung am 15. Golfkriegstag natürlich undenkbar. Die Gedanken marschieren in eine ganz andere Richtung, zumal der Oberkommandierende der US- Streitkräfte, Norman Schwarzkopf, nicht nur soldatisch-zärtliche Kosenamen wie »Norman the Bear« oder »Storming Norman« einheimsen konnte, sondern auch den Titel »Norman of Arabia« zugesprochen bekam. Woran also müssen wir denken, wenn der junge Peter O'Toole Flanke an Flanke mit dem jungen Sharif Omar zu Pferd oder zu Kamel durch die Cinemascope-Wüste prescht?

Zum Beispiel an Antiamerikanismus: den gibt es immer noch nicht. Wenn überhaupt anti, dann ist Lawrence von Arabien antitürkisch (präziser: antiosmanisch) und pro-arabisch im Sinne der Einheit aller arabischen Völker. Lawrence vertritt diese Position nachdrücklich. Oder an Bombardements: auch die gibt es damals noch nicht. Nur schwerfällige Kanonengeschütze, die im Wüstensand versacken und daher eher untauglich sind. Gemetzelt wird hauptsächlich mit Säbeln und Schießgewehren.

Chirurgische Schnitte: Diese führen Lawrence und Ali im Vergleich zu Schwarzkopf mit äußerster Genauigkeit durch. Nachschublinien werden ebenso zielsicher zerstört wie die richtigen Gebäude in die Luft gesprengt.

Job tun: Der Job, den Lawrence für das Arab Bureau verrichtet, ist ein Vorwand, um Abenteuer zu erleben und um ein großanlegtes Selbsterfahrungsprojekt exzessiv durchzuführen. In der Wüste hast Du nichts als Dich selbst.

Öl: spielt noch keine Rolle.

Medien bzw. Zensur: Der einzige Amerikaner, der in Lawrence von Arabien auftaucht, ist ein Reporter, ein Vorläufer des CNN-Mannes Peter Arnett in Bagdad. Nachdem er den Emir um Erlaubnis zur Berichterstattung gefragt hat, darf er alles weitermelden, was er sieht. Mitten im Kugelhagel hält er für die Medien mit gezücktem Bleistift und schußbereiter Kamera die Stellung. Lawrence macht ihm sogar die Siegerpose.

Ermordete Zivilbevölkerung: wird kurz drauf eingegangen. Eines Tages erreichen Lawrence und die Beduinenguerillos ein von türkischen Trupen vernichtetes Dorf, das mit Leichen übersät ist. In einer daraufhin folgenden haßgeladenen Vergeltungsaktion metzeln sich Lawrence und seine Leute in einen wütenden Blutrausch. (Diese Szene kommt in der gekürzten Fassung nicht vor.)

Kuwait: existiert zwar schon damals, spielt aber keine Rolle. Staaten wie Irak, Syrien oder Jordanien mit ihren schnurgeraden Grenzen werden nach dem Ende des Ersten Weltkrieges auf ehemals osmanischem Gebiet geschaffen.

Antiimperialismus: vom antiimperialistischen Standpunkt aus betrachtet ist Lawrence von Arabien natürlich untragbar. Davon abgesehen ist der Film wirklich Klasse.

Lawrence von Arabien, das ist ein Momumentalschinken, ein Kolonialepos, ein Filmklassiker, eine Helden-, Ruhm- und Gloriensaga, ein Selbsterfahrungstrip, ein Kriegsspektakel, ein multikulturelles Aufeinandertreffen, ein Wüsten-Mythos, eine Bilderorgie, ein Nahost- Drama, ein Männer-machen-Geschichte-Ding, eine gigantische Überwältigung und überhaupt eine Legende. Und es ist die Geschichte einer Männerliebe ohne Coming- out, die 1962 allerdings nur äußerst latent daherkommen durfte.

Das Babylon zeigt, wie gesagt, die kürzere Version. Zwar existiert die rekonstruierte Fassung in Cinemascope seit anderthalb Jahren, aber merkwürdigerweise hat sie, abgesehen von der einmaligen Vorführung im Dezember, die hiesigen Kinos nie erreicht und, ob es in diesem Jahrtausend noch einmal dazu kommt, ist fraglich. Volker Gunske

Lawrence von Arabien, GB 1962, von David Lean mit Peter O'Toole, Omar Sharif, Alex Guiness, Anthony Quinn, Jack Hawkins. OF nur heute, 19.30 Uhr, im Babylon- Ost.