Ent-SEDisierung

■ Überlegungen zum Umgang mit der deutsch-deutschen Vergangenheit VORSCHLAG ZUR GÜTE

„Mit dem großen Kamm durchgehen“, so formulierte jüngst die niedersächsische Justizministerin Heidi Alm-Merk die Aufgabe der „alten“ Bundesrepublik gegenüber der „neuen“. „Mit dem großen Kamm durchgehen“ — welch eine Entlausungs- und Erziehungsaufgabe hat sich die saubere, recht im wörtlichen Sinne behaltende Altrepublik vorgenommen. Nur indem die Ex-DDR und die in ihr verbliebenen Menschen, immerhin 16 Millionen an der Zahl, geradezu radikal gleichgekämmt werden — die Leute sind doch selbst dran schuld, wenn ihre Kopf- und Seelenhaut dabei verletzt wird —, so scheint es, nur so kann mit den „neuen Ländern“ bundesdeutscher Staat gemacht werden. „Anschluß“ lautet deshalb das bundesdeutsche Gleichschaltungsmotto, wie es grundlegend im „Einigungsvertrag“ durchgespielt wird.

Vergleichsweise willkürlich, und je nach Beruf unterschieden, wird geregelt, in welchem Umfang Bürger der Ex-DDR ihre beruflichen Positionen halten bzw. neu erwerben könnten. Ökonomische und politische Gründe schaffen eine allgemeine Situation der Unsicherheit. Die alte „realsozialistische“ Ökonomie und das ihr zugeordnete soziale System sind zusammengebrochen. Die neue, altbundesdeutsch importierte Marktwirtschaft, ihre Wirtschafts- und ihre Eigentumsordnung sind noch nicht soweit etabliert, daß die dem gegenwärtig entwickelten Kapitalismus ortsübliche Zweidrittelgesellschaft in voller Blüte gediehe. Die SED-Verschlungenheit vieler „alter“ Führungskräfte aber läßt es geraten, ja notwendig erscheinen, manche neu-alten Positionen von ihren seitherigen Inhabern zu „befreien“ bzw. neue und andere Positionen nicht mehr mit zu engen Kollaborateuren des „alten Regimes“ zu besetzen. Auf diese Weise aber vermischen sich Arbeitslosigkeit und wie immer gut begründetes Berufsverbot unklar und untergraben alle mögliche Erwartungssicherheit.

Recht auf Lernen

Ins „realsozialistische“ Regime, das einen totalen Anspruch erhob und denselben auf alle erdenkliche Art durchzusetzen ausging, sind alle Bürgerinnen und Bürger der DDR nolens volens von Kindesbeinen an hineingezogen und hineinverwoben worden. Täter und Opfer, meist aber Täteropfer und Opfertäter waren die Regel: ein uneindeutiges Kontinuum des Verhaltens mit vielen diversen Mischungsgraden aus Täter- und Opferelementen.

Vom scheinbar charakterfesten Port der (alten) Bundesrepublik aus ist nur in selbstgerechter Attitüde ein sicheres Urteil möglich. Wie war es um die Bundesrepublikanerinnen und Bundesrepublikaner bestellt, als sie noch das „Brot der frühen Jahre“ aßen und als sie sich daran machten, dem Krieg und von ihnen meist mitgetragener nationalsozialistischer Herrschaft entronnen, die von den westlichen Alliierten geschenkte Bundesrepublik mitzugründen? Mitläufer mehr oder minder fast alle, Mittäter und eher wenige Opfer, die überlebt hatten, machten sie sich, alle Erinnerung scheuend, alle „Trauerarbeit“, eilig daran, wiederaufzubauen. Das „Wieder“ regierte die Jahre. Darum ist Behutsamkeit angebracht und ist es notwendig, daß alle, die auf die Bürger der Ex-DDR heute zeigen, dessen eingedenk sind, worauf Gustav Heinemann aus anderem Anlaß an Ostern 1968 aufmerksam gemacht hat. Daß drei Finger der Hand, mit der man auf andere zeigt, auf einen selber zurückverweisen. Und wie haben sich all diese strammen Bundesrepubikaner mit unendlich viel geringerem Risiko später in ihren Berufen verhalten, als sie sich hätten menschenrechtlich- demokratisch bewähren sollen?

Wie tun sie es heute gerade gegenüber den Menschen aus der ehemaligen DDR? In stellvertretender Moralpose? Angesichts der ungleich günstigeren Lebensumstände, die den Alt-Bundesrepublikanern beschert worden sind, käme es darauf an, wenn Gerechtigkeit und Solidarität nicht leer aneinanderklopfen sollen, den Menschen aus der ehemaligen DDR uneigennützig zu besseren Lebensbedingungen zu verhelfen. Damit sie wahrhaft selbstbewußt und selbständig werden können, aufrechten Gangs.

Keine Generalamnestie und keinen Schematismus

Folgende Grundsätze sind u.E. zu beachten, wenn man alte und neue Erfahrungen situationsangemessen beachtet und wenn man weder eine Generalamnestie i.S. eines Akts pauschalen Vergessens und „Beschweigens“ (Lübbe) noch eine schematische „Ent-SEDisierung“ für akzeptabel hält:

— Auf eine institutionelle Neuerung kommt es an erster Stelle an, gerade wenn man will, daß aufrechte Demokraten zu Bürgern der neuen Bundesrepublik werden. Diese Neuerung darf aber nicht primär als institutionelle und regulative „Erstreckung“ von den „alten“ auf die „neuen“ Bundesländer erfolgen. sonst kann institutionell weder von den fundamentalen Fehlern des SED-Regimes und seinen wenigen positiven Momenten gelernt werden noch von den Mängeln und Vorzügen der Institutionen und Prozeduren der Bundesrepublik bis 1990. Deswegen kommt es aufs institutionelle Experimentieren zentral an.

— Unmenschlich wäre es, erlaubte man nicht allen in das alte Regime der DDR verstrickten Menschen, sich zu ändern und, soweit irgend möglich, neu anzufangen.

— Aus diesen beiden Feststellungen folgt, daß vor allem anderen die Bedingungen dafür geschaffen werden müssen, damit die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR die ihnen alt (durch ihre Verstrickung in die SED-Herrschaft) und neu (durch die Eingliederung in die BRD) gestellten ungeheuren Probleme selbst angehen, durch mitbestimmte Normen und partizipatorische organisatorische Formen.

— Schematische Auflagen und Regelungen scheiden als Pseudo-Lösungen in jedem Fall aus. Keine formelle Mitgliedschaft oder Position als solche schon sind an sich selber genug, um so oder so zu entscheiden und zu verfahren. Die spezifischen Kontexte müssen beachtet werden. Daraus resultieren unvermeidlicherweise ab und an peinliche Fragen und Schwierigkeiten des Abwägens, die aber aus Gründen individueller und kollektiver politischer Moral ertragen werden müssen.

Angst vermeiden

— Eine zentrale Voraussetzung von Lernen ist, daß genügend Lernzeit vorhanden ist. Eine andere zentrale Voraussetzung besteht darin, daß Angst, soweit möglich, vermieden wird.

Sollen also Lernprozesse mit demokratischem Ausgang in den fünf neuen Bundesländern und im Ostteil Berlins inszeniert werden, dann dürfen nicht Angst und Sorge ums berufliche Überleben die Patinen solchen Lernens sein. Dann muß jenseits von Schuld und Sühne, gerade um schuldbedenkende Erinnerung zukunftsgerichtet und mit Konsequenzen versehen möglich zu machen, dafür gesorgt werden, daß alle Arbeit und Mittel zum Leben bekommen.

Vorschläge

1. So peinlich das manche berühren mag: Durchgehend sind Kündigungs-, Entlassungs- und Einstellungsverfahren einschließlich der jeweils benutzten Kriterien öffentlich zu gestalten.

2. Um der weitreichenden politisch-gesellschaftlichen und persönlichen Bedeutung willen ist im ersten Halbjahr 1991 im Bundestag und sind in den fünf Landtagen der neuen Bundesländer mitsamt des vereinten Berlin von den jeweiligen Innenausschüssen öffentliche Anhörungen über die Regulativen und Prozeduren der personellen und der institutionellen Überleitung zu organisieren. Die Innenausschüsse fungieren während dieser Zeit zugleich als Petitionsausschüsse in Fragen der Entlassung und Neuanstellung von Bürgerinnen und Bürgern. Parlamentarische Beschlüsse stehen spätestens Mitte 1991 an.

3. Diese öffentlichen Diskussionen und Beschlüsse müssen prinzipiell den Überleitungsverfahren sowohl im öffentlichen Dienst wie in den formell privaten Berufssektoren gelten.

4. Die Voraussetzungen einer öffentlichen Debatte bestehen u.a. darin, daß den Forderungen der Bürgerrechtskomitees der ehemaligen DDR genügt wird. Das heißt: Alle Akten sind im Gebiet der fünf neuen Bundesländer zu archivieren; alle Bürger haben prinzipiell Zugang zu ihren Akten.

Experimentiergehalt

5. Alle Personen, die in der DDR sog. Führungspositionen eingenommen haben (höherer Dienst, Leitungsfunktionen u.ä.) werden gekündigt. Diese alle betreffende Kündigung erst ermöglicht es, institutionell und personell zu erneuern. Sie macht den systematischen Schnitt deutlich, sie verhindert eine Atmosphäre der Timidität, und sie eröffnet neue Chancen für alle.

6. Im Rahmen von zugleich neu zu bestimmenden Aufgaben werden Führungspositionen in einem transparenten und demokratischen Verfahren auf die Dauer von maximal drei Jahren vergeben. Auf diese Weise wird der Schock der allgemeinen Entlassung aufgefangen. Im Laufe der drei Jahre werden diese und andere Positionen erneut ausgeschrieben.

7. Personen, vor allem solche in Führungspositionen, die anderen nachweislich durch Zuarbeit zur und Mitarbeit in der Stasi oder in anderer menschenrechtswidriger Weise geschadet haben, dürfen öffentliche oder formell private Führungspositionen wenigstens auf die Dauer von fünf Jahren nicht mehr einnehmen. Es ist aber zu gewährleisten, daß diese Personen eine ihnen zumutbare sinnvolle Arbeit bekommen.

8. Alle Erwerbslosen in den Ländern der ehemaligen DDR, einschließlich derjenigen, die in ihren ehemaligen Führungspositionen nicht weiterbeschäftigt werden können, erhalten — fürs erste zwischen 1991 und 1993 geltend — das Angebot eines Experimentiergehalts. Mit Hilfe diese Gehalts können alle BürgerInnen, die länger als drei Monate erwerbslos sind, sich selbst einen Arbeitsplatz suchen. Gesellschaftlich notwendige Arbeit ist in Hülle und Fülle vorhanden. Die Arbeit kann auch i.S. nachweislicher Weiterbildung oder Umschulung erfolgen. Die Arbeitslosen handeln ihre Arbeitsverträge mit den diversen Arbeitgebern aus und erhalten, mindestens zwei Jahre geltend, je nach Arbeitszeit, Qualifikation und Familienstand, monatlich 700-2.500 DM netto. Bedenkt man all die kurz- und längerfristigen materiellen Kosten, von den immateriellen ganz zu schweigen, die aus der Arbeitslosigkeit entstehen, und rechnet man hinzu, wieviel gesellschaftliche Werte durch die Arbeit der Erwerbslosen geleistet werden könnte, dann wird leicht einsichtig, daß das Experimentiergehalt bezahlbar ist und die Nutzen die Kosten bei weitem übertreffen. Hier ist übrigens auch die Stelle gegeben, wo die Alt-Bundesrepublikaner den Neu-Bundesrepublikanern Solidarität und Hilfe schulden. Peter Grottian/

Wolf-Dieter Narr

Die Autoren sind Professoren für Politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin