Spätlese

■ Bengt Af Klintberg

Bengt Af Klintberg: Die Ratte in der Pizza und andere moderne Sagen und Großstadtmythen. Wolfgang-Butt-Verlag. Aus dem Schwedischen von Markus Bertram, Katja Köhne und Gerhard Schmitz. Illustriert, geb., 310 S., 29,80 DM

In das Haus des Bruders meiner Freundin wurde nachts um drei die Polizei gerufen, weil aus der Wohnung über ihm Hilfeschreie kamen (er war selbst nicht da und hörte die Geschichte von der Nachbarin). Die Polizei brach die Wohnung auf und fand folgende Lage vor: Ein Mann, nackt bis zum Nabel und den Oberkörper mit einem Batman-Umhang bedeckt, liegt mit zwei gebrochenen Beinen auf dem Fußboden vor dem Bett. Auf dem Bett liegt eine Frau, nackt und gefesselt. Auf intensives Nachfragen klärt sich die Geschichte wie folgt: Mann und Frau, des orthodoxen Beischlafs müde, einigten sich darauf, daß er — bekleidet nur mit besagtem Umhang — vom Fensterbrett her sie bespringen sollte, die selbst, zur Erhöhung der Spannung, nackt und gefesselt auf dem Lager seiner harrt. Der Mann springt und springt daneben und bricht sich beide Beine. Er kann nicht zum Telefon, und seine Gespielin erst recht nicht, also beginnen die beiden um Hilfe zu rufen, die nach Stunden auch kommt. Ich nehme an, Sie kennen die Geschichte. Sie ist ein aktueller Anwärter auf Aufnahme in die genannte Textsammlung, denn sie wird derzeit in allen Städten Deutschlands erzählt — und jeweils ist es der Bruder einer Freundin oder die Nichte eines Bekannten oder der Kollege einer Freundin, der sie berichtet und darauf schwört, daß sie wahr sei. Irgendwann wird sie einmal die höheren Weihen einer 'dpa‘- oder 'Associated-Press‘-Meldung erhalten, und wenn sie einmal in einer Zeitungsspalte unter „Vermischtes“, „Aus aller Welt“ oder „Gehört und Gelesen“ auftaucht, gibt es endgültig kein Halten mehr: dann ist sie wahr geworden. „Die Ratte in der Pizza“ ist ein grandioses, wildes Buch: die Welt als Meldung und Mythos. Ein schwedischer Völkerkundler hat diese nicht totzukriegenden Geschichten gesammelt, die seit Jahrzehnten immer wieder erzählt werden, in immer neuen Versionen und jeweils mit Lokalkolorit. Wir kennen sie fast alle: der Tote Hund als Basis der Chinesenküche, der Anhalter, der sich in Luft auflöst, die Zahnplomben, durch die man Radio hört, der Einbrecher mit den Konzertkarten... Ob sie irgendwann einmal wahr gewesen sind, ist für diese Sammlung nicht wichtig. Interessant ist ihr Verbreitungsgrad, denn er bezeugt das kollektive Interesse daran, gerade dieser Geschichte zu glauben: Wer traut schon der chinesischen Küche wirklich? Und den Tricks der Mediziner, der Technik, die niemand mehr begreift? Diese Geschichten lassen sich interpretieren wie erfolgreiche Witze und die Sagen des Mittelalters, sie drücken aus, woran wir zu glauben bereit sind — und das ist, vom Ufo bis zu Nessie und der verschwundenen Großmutter, offensichtlich eine ganze Menge. Die Konfrontation mit der eigenen Leichtgläubigkeit ist lustvoll, komisch und grauenhaft, und die Lektüre dieses Buches macht die vergnüglichste Kritik an unserem vollgerümpelten Alltagswissen aus, die sie sich nur denken läßt. Am spannenendsten sind jene Geschichten, deren Umformung von derselben in kollektiver Übereinkunft zeugt, so die klassische des Betonfahrers: Er sollte fünf Tonnen Beton zu einem Bauplatz bringen. Der Weg dorthin führt an seinem Haus vorbei, er sieht das Auto seines besten Freundes — einen Volkswagen-Cabrio — dort geparkt stehen und springt kurz hinein. Aus dem Schlafzimmer tönen schwer mißverständliche Laute, die weiblichen sind die seiner Frau. Der Betonfahrer verläßt das Haus lautlos, öffnet das Sonnendach des Cabrio und setzt sein Betonauto in die passende Position. Er füllt das Innere des Wagens und fährt davon. Das Auto des Freundes und Liebhabers wiegt nun 2,6 Tonnen, und es bedarf zweier Abschleppautos, um es zu entfernen — auf Kosten des Täters selbstredend.

Das ist die schwedische „Urversion“, zu lesen im 'Expressen‘ vom 8. März 1973. „Eine Reihe von Zeitungen“, so Klintberg, „in und außerhalb von Skandinavien sorgten dafür, daß die Geschichte weiter verbreitet wurde. Bevor die Woche zu Ende war, hatte sie den Weg bis zur 'Daily Nation‘ in Nairobi gefunden. Eine ausländische Presseagentur telegraphierte wegen eines Photos von dem betongefüllten Volkswagen. Man hatte aber kein Photo, denn es gab kein Auto zu photographieren. 'Das Betonauto‘ ist eine moderne Sage, die mehrmals um die Welt gewandert ist. Die Presseagentur 'ap‘ verbreitete sie 1960 über die ganzen USA; dabei soll sich die Begebenheit in Denver, Colorado, zugetragen haben und das Auto ein De Soto gewesen sein. Eine ältere Version war in den USA bereits in den zwanziger Jahren bekannt. In ihr rächt sich der Ehemann, ein Müllfahrer, indem er sein Müllauto in den Stutz Bearcat des Liebhabers ausleert.“ Und nun der Clou: Die Geschichte wurde mehrfach verändert, und neu bewertet wurde dabei die Rolle des betrogenen Ehemannes. Vom gewitzten gerechten Rächer verwandelte er sich über den düpierten (seine Frau spricht lediglich mit einem gut gekleideten Herrn in offensichtlicher Harmonie im von der Straße aus einsichtigen Wohnzimmer, er füllt das nagelneue Auto mit Beton und erfährt zu spät, daß der Herr der Verkäufer und das Auto ein Hochzeitsgeschenk waren...) zum lächerlichen Tölpel: „Er erblickt seine Frau in den Armen seines besten Freundes. Wütend leert er den Inhalt des Betonmischers in das offene Auto. Einen Augenblick später kommt der Freund heraus, steigt auf ein Fahrrad und fährt davon.“ Wenn es noch eines Beweises zur endgültigen Liberalisierung der bürgerlichen Sexualmoral bedürfte: hier wäre er, frei Haus geliefert. (Und wer jetzt noch den Kopf schüttelt, lese die Reiseseiten der taz vom 19.1. Dort ist unter der Überschrift „Wie gefährlich ist New York“ die Geschichte einer Meldung von 'Associated Press‘ zu lesen, nach der ein wohlhabender Berufstätiger mit Familie die Stadt verlassen habe, weil er „nicht in einer Schießerei den Tod finden“ wolle und „seinem dreijährigen Sohn auf dem Spielplatz Crack angeboten“ worden sei. Auf Nachfragen klärte sich, daß der Mann es bedauerte, die Stadt verlassen zu haben — der Autor des taz-Artikels konnte ihn ermitteln — und, „damit die Kinder einen Garten haben“, aufs Land gezogen sei. Sein Sohn hatte lediglich einmal gefragt, was das Wort „Crack“ bedeute, aber er wurde nie gefragt, ob er es denn mal ausprobieren wolle... Und das Schießerei-Zitat stammt aus einer anderen Geschichte, welche die Korrespondentin der Nachrichtenagentur mit diesem Schicksal und diversen anderen vermixt hatte, um zu einer Story zu kommen. Die Frage ist nicht, wie gefährlich ist New York? Die Frage ist: Wie gefährlich ist das Zeitunglesen? (Ja doch, auch dieser.)