Gnadenlos gegen RAF-Aussteiger Lotze

Bayerisches Gericht verurteilt Lotze trotz Kronzeugenregelung zu zwölf Jahren Haft für Mord und Mordversuch/ Ohrfeige für Bundesanwaltschaft/ Sie forderte neun Jahre und geht nun in die Revision/ Verteidiger spricht von vergebener Chance  ■ Aus München Luitgard Koch

Mit einer Sensation endete gestern der erste RAF-Kronzeugenprozeß vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht. Ein Raunen ging durch den vollbesetzten Gerichtssaal, als der Vorsitzende Richter, Ermin Brießmann, das mit Spannung erwartete Urteil verkündete. Zwölf Jahre soll der 38jährige RAF-Aussteiger Werner Lotze nach dem Willen der Richter hinter Gitter. Das letzte Wort ist allerdings noch nicht gesprochen: Die Bundesanwaltschaft (BAW) geht zugunsten Lotzes in die Revision. Das bayerische Gericht liegt mit seinem Urteil erheblich über der Strafforderung der Anklagebehörde. Oberstaatsanwalt Klaus Pflieger hatte am Freitag lediglich neun Jahre Haft für Lotze verlangt und diese vergleichsweise moderate Forderung weniger juristisch als rechtspolitisch begründet.

Dennoch gefaßt nahm der im Juni 1990 in der ehemaligen DDR festgenommene Werner Lotze den Richterspruch entgegen. Verurteilt wurde das frühere RAF-Mitglied wegen Mordes an dem Polizeibeamten Hans-Wilhelm Hansen, mehrfachen versuchten Mordes, darunter an dem früheren Nato-Oberbefehlshaber in Westeuropa, Alexander Haig, sowie räuberischer Erpressung bei zwei Banküberfällen. Hoffnung auf ein mildes Urteil machte sich auch die Verteidigung. Vor allem, weil für Lotze erstmals in der Geschichte der juristischen Auseinandersetzung mit der RAF ein Vertreter der Anklagebehörde als Zeuge ausgesagt hatte. Bundesanwalt Pfaff hatte bei seinem Auftritt vor den fünf bayerischen Richtern nochmals eindringlich versucht, klarzumachen, daß der „Fall Lotze Pilotfunktion“ habe und die Kronzeugenregelung „großzügig“ angewandt werden müsse. Das Urteil habe „die Chance für ein Signal vergeben“, erklärte Verteidiger Dieter Hoffmann nach der Urteilsverkündung. Nur eine Strafe von deutlich unter zehn Jahren hätte seiner Ansicht nach „sinnvoll der Terrorismusbekämpfung gedient“. Alles andere werde von der RAF und ihrem Umfeld nur als Rache für ihre Anschläge und Aneinanderreihung von Niederlagen begriffen. Unbeeindruckt von den exklusiven Zeugen und der Linie der Bundesanwaltschaft betonte Richter Brießmann gestern, die „Signalwirkung“ des Urteils sei für das Gericht unerheblich. Nach Meinung des bayerischen Gerichts steht bei der umstrittenen Kronzeugenregelung Aufklärung und Prävention im Vordergrund. Eine „historische interessante Aufklärung früherer Straftaten“, wie sie Lotze geliefert habe, sei nicht von Bedeutung. Daß infolge der Aussagen Lotzes die Strafbehörden künftige Straftaten verhindern könnten, bezeichnete Brießmann als „Vermutungen und Spekulationen“. „Die kriminalpolitische Wirkung kann nicht vorrangiger Zweck der Kronzeugenregelung sein“, behauptete er. Vehement stellte Brießmann — im Ehrenamt Vorsitzender des Komitees der Bayerischen Katholiken — fest, eine andere Meinung sei vor einem bayerischen Gericht „ungeläufig“. Auch der in der Kronzeugenregelung vorgesehene „klassische Fall einer aktuellen Zugriffsmöglichkeit zur Unterbindung von Straftaten“ sei durch die Aussagen Lotzes nicht erfüllt. Eine Verunsicherung und Beunruhigung der „sogenannten Szene“ wollten die Richter nur dann in ihrem Urteilsspruch werten, wenn dadurch Straftaten verhindert worden wären. Dies jedoch hätten die Zeugen, zweimal wurden dazu Vertreter der BAW und des Verfassungsschutzes gehört, nicht belegen können. Gleichzeitig würdigte das Gericht jedoch die Aussagen Lotzes zur „Innenstruktur“ der RAF. Lotze hatte sich und seine Kampfgefährten mit seinen Aussagen schwer belastet. So gestand er einen bei einer Schießübung in einem Waldstück bei Dortmund möglicherweise tödlichen Schuß auf den Polizeibeamten Hansen. Vor allem diese Tat veranlaßte das Gericht zur Härte. „Jede übertriebene Barmherzigkeit gegenüber dem Täter wird zur Ungerechtigkeit gegenüber dem Opfer“, betonte Brießmann. Außerdem würde ein mildes Urteil den „Gerechtigkeitssinn der Gemeinschaft“ sowie die Abschreckung für andere mindern. Immer wieder verwies er darauf, daß die inzwischen begnadigte Angelika Speitel für ihre Beteiligung zweimal lebenslänglich bekommen habe und auch jedes Schwurgericht, ohne Anwendung der Kronzeugenregelung, eine lebenslange Haftstrafe dafür verhängt hätte. Es sei Aufgabe des Gerichts, die Tat nicht zu „verniedlichen“. Bei der Rekonstruktion des Tathergangs gibt es vor allem bezüglich der Schießerei in Dortmund zahlreiche Widersprüche. Das Gericht schloß sich jedoch in seiner Vorstellung des Ablaufs der Aussage der Polizeizeugen an. Lotzes Schilderung des Tatablaufs gehe hier nicht sonderlich über das hinaus, was er dabei tat, erklärte Brießmann in Hinblick auf die Anwendung der Kronzeugenregelung. Für den Mord und den Mordversuch bei der Schießübung in Dortmund berechneten die Richter, ebenso wie für den mißglückten Anschlag auf den Nato-Oberbefehlshaber Haig, neun Jahre. Bei diesem Attentat sei Lotze besonders „kaltblütig vorgegangen“. Für die beiden Banküberfälle wurden unterschiedliche Strafen ausgesprochen. Drei Jahre für den in Darmstadt und vier Jahre für den in Nürnberg, weil die Richter im Fall Nürnberg eine „gesteigerte Energie das Unrecht durchzusetzen“ sahen. Aus diesen Einzelstrafen bildeten sie die Gesamtstrafe. Nur wegen der Kronzeugenregelung sei diese Strafe „so niedrig“ ausgefallen, brüstete sich Brießmann.

„Es ist nicht Sache des Gerichts, Gnade walten zu lassen, sondern Recht zu sprechen“, verteidigte Richter Brießmann abschließend die verhängte Strafe. Gleichzeitig schmetterte er auch die von Verteidiger Hoffmann beantragte Haftverschonung bis zur Rechtskräftigkeit des Urteils ab. Da Lotze sich nicht freiwillig gestellt habe, bestehe weiterhin Fluchtgefahr. „Der moderne Strafvollzug schafft Möglichkeiten, um familiären Belangen Rechnung zu tragen“, so sein magerer Trost für den Angeklagten, der Vater einer kleinen Tochter ist. Seine eineinhalbstündige Urteilsbegründung beendete Brießmann mit einer fast väterlichen Rechtsbelehrung. „Haben Sie das verstanden?“, erkundigte er sich bei Lotze, nachdem er ihn darauf aufmerksam machte, daß eine etwaige Revision zu begründen sei.