Lauwarmes Lüftchen

■ Salvatore Sciarrinos „Perseus und Andromeda“ wurde in Stuttgart uraufgeführt

Der Golf liegt unterm Ölteppich; das Musiktheater versorgt uns derweil mit einem späten Abglanz des Mythos aus den lichten und grausamen Vorzeiten des vorderen Orients. Vielleicht kann es gar nicht mehr anders sein, als daß die Bühne solche extremistischen Distanzen zur Wirklickeit schafft, die für uns ja die der Bildschirme ist. Der Sizilianer Salvatore Sciarrino, Jahrgang 1947 und bereits vor zehn Jahren in Stuttgart mit der Kammeroper Aspern hervorgetreten, bearbeitete eine Passage aus Jules Laforgues Moralités légendaires von 1887 zu einem knappen Libretto und notierte eine Bühnenmusik, die es bei drei singenden Personen bewenden ließ und auf das Orchester verzichtete. Im Graben, der teilweise durch Plastikplanen abgedeckt ist und das Meer am Horn von Afrika darstellen mag, agieren die Souffleuse und Julia Jones, die für die Einsätze der Sänger zu den am Centro Sonologia Computazionale der Universität Padua vorgefertigten Klänge sorgt.

Die sind nicht ohne Reiz. Zu den Gestirnen, welche sich zunächst über Andromeda zeigen, die den alten Griechen als Königstochter in Aithiopien galt, klopfen Steine ruhig das Metrum der unendlichen Zeit. Mit recht dilettantischer Pantomime deutet die Mezzosopranistin Lani Poulson vor Felsbrocken eine Situation der Einsamkeit an. Und immer klopft der Stein dazu, kahl und provizierend. Daß die Tochter des Kepheus und der Kassiopeia, der Sage zufolge am Ufer festgebunden wurde, um den durch Hybris herausgeforderten Meeresgott Poseidon durch dieses Opfer an eines seiner Seeungeheuer zu versöhnen, davon ist in der Inszenierung des deutsch-brasilianischen Theatermachers Gerald Thomas nichts zu erkennen.

Andromeda hebt an zu singen, repetiert immer wieder den gleichen Halbtonschritt: Ma-re, sempre mare. Il mare chiuda la vista. Das Meer verhindert den freien Blick. Sie hat genug davon — und greift ein wenig weiter in den Tonraum aus, setzt mehr Möglichkeiten ihrer wohlausgebildeten Stimme ein. Ein großes Crescendo.

Irgendwann taucht der Drache aus dem Graben auf. Robert Wörle ist eher ein Seeungeheuer, das die Feuchtigkeit von Innen braucht: ein aufgeschwemmter Tresenhocker, dem zuvor schon Dutzende von Flaschen zurollten. Ersatz-Opfer. Er erweist sich als freundlich-joviales Ungeheuer, dem die Zuneigung der gelangweilten Oberschicht-Lady gilt. Atlantische Einsamkeit.

Mittlerweile hat die Bühnenbildnerin Daniela Thomas ein überdimensionales Regal mitten auf die Bühne fahren lassen, dessen Erscheinen sich Andromeda zunächst noch entgegenstemmte. Das Möbel mit den lichten Farbflächen ist Piet Mondrian nachempfunden; in den Lichtkästen deuten sich die Elemente an: Erde, Wasser, Luft und der Rauch des Feuers. Im Zentrum aber das Modell eines Theaters.

Hier und nirgends anders sind und bleiben wir auch. Perseus, der griechische Held und Bezwinger der Medusa, taucht aus den Wellen auf, denen die Mondrian-Adaption Platz gemacht hat: gleich doppelt ist der unwillkommene Befreier. Beide Perseuse in Harnisch, mit Schwert und Gorgonenskalp. Andromeda aber trauert um ihr liebes Ungeheuer, dem die Luft herausgelassen wird. Einen einzigen Tonfall nur mochten die Computertechniker in Padua ihren Maschinen entlocken: den des Windes, des Hauchs und des Blasgeräuschs, das sich mit leeren Flaschen erzeugen läßt.

Der Mythos, das Musiktheater, diese Produktion des Staatstheaters Stuttgart hauchen schließlich wie eine geleerte Flasche nur eine Botschaft: So kalorienarm und schal mein Inhalt auch herausgeplätschert sein mag — es muß doch einst was gewesen sein in dem, an das ich mich als Afterkunst hefte, das mehr war als lauwarmes Lüftchen!

Verletzt wurde da im Großen Haus am Schloßgarten jenes Gesetz der Verhältnismäßigkeit der Mittel, nachdem sich ein Hauch nicht zu einem abendfüllenden Opernabend aufplustern sollte. Mit der Idee des mutierten Naturgeräuschs im Kontrast zur bloßgestellten menschlichen Stimme ließe sich wohl auf ungeheure Weise modernes Musiktheater machen. Diese Chance wurde in Stuttgart verschenkt: hörbar durch die Phantasiearmut der Partitur und sichbar durch die Bemühungen auf der Bühne, die gelegentlich unfreiwillig Heiterkeit auslösten. Vielleicht sollte der Generalintendant des Hauses, gewarnt durch den Sturz seines großen Gönners Lothar Späth, seine extensiven Aktivitäten auf jenes Maß bringen, das ihm erlaubt, sich darum zu kümmern, daß nicht noch mehr leere Flaschen auf seine Bühne kullern. Frieder Reininghaus