: Appease now!
■ Das Menetekel der Geschichte ESSAY
Nie zuvor in Europa wogte die Friedenssehnsucht so heftig wie 1935-41. Selbst heute nicht. Abermillionen Tote hatte es 1914/18 gekostet, das deutsche Heer nach Belgien und Nordfrankreich zu schieben, dort zu behaupten und halb wieder herauszudrücken. Einen solchen Preis wollten die Zeitgenossen fortan für nichts in der Welt mehr entrichten. Welches Ziel rechtfertigte den Einsatz? Streitfragen mochten internationale Gremien schlichten: der Völkerbund, der Haager Gerichtshof, Friedenskonferenzen. 1928 ächteten die Staaten den Krieg als Verbrechen, und so blieb nichts als der gewaltlose Ausgleich übrig. Wer ausschert, legt sich mit allen an. Alle vermögen den einen unschwer zum Einlenken zu zwingen, durch Sanktionen, durch Blockade, durch Kompensation. Das System war perfekt, denn es ging auf den deutschen Philosophen Kant zurück. Als der deutsche Reichskanzler Hitler die Reste des schönen Systems beiseite fegte, entfesselte er den unpopulärsten Krieg aller Zeiten.
Sogar die Deutschen waren lustlos und tauten erst auf, als innerhalb von zehn Monaten Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich unter allseitig geringfügigen Verlusten in die Knie sackten. Kanzler Hitler hatte in vier Jahren geduldigen Verhandelns mit den späteren Gegnern blitzneue Stukas und Panzer angeschafft. Dem präzisen Uhrwerk des Technologiegefechts hatten sie nichts Wirksames entgegenzusetzen. Vielen imponierte der Anblick, andere stimmte er versöhnlich. Es war der sauberste Krieg seit Menschengedenken. Im Frühjahr 1941 fielen Jugoslawien und Griechenland. Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die Slowakei erquickten sich am auskömmlichen Satellitenstatus. Die Sowjetunion hatte sich mit Hitler friedlich auf die Teilung Polens sowie die Annexion des Baltikums geeinigt und belieferte ihn ausgiebig mit den nötigen Rohstoffen. Schweden und die Schweiz verdienten am neutralen Umsatz von Erz und Präzisionsinstrumenten wie noch nie im Leben. Nur England bekriegte Mitte 40—41 die kontinentale Ordnungsmacht, der aus allen eroberten Ländern zwei Millionen Arbeiter freiwillig zuströmten. Deutschland bot Arbeit, gute Löhne und das attraktivste Sozialsystem. Zudem dampften die Schlote in ganz Westeuropa mit Karacho von deutschen Rüstungsaufträgen. Hitler ist von seinen Opfern aufgerüstet worden. 100 Prozent der französischen Lokomotiv-, 95 Prozent der Werkzeugmaschinenproduktion lieferten ins Dritte Reich. Eine isolierte Minderheit kampfbesessener Individuen wurde von der Gestapo zur Strecke gebracht. In Polen raste die SS und eröffnete Ghettos. Davon ließ sich aber der europäische Verständigungswille nicht entmutigen. Dann, im Juni 1941, explodierte die pax germanica mit dem überfall auf den arglosen sowjetischen Verbündeten zum Zweiten Weltkrieg. Sechs Jahre unermüdlichen Appeasements und teils vergnügte, teils verdrossene Kollaboration klangen aus. Im Dezember registrierte die deutsche Rußlandarmee 290.000 Tote, die Sowjetunion nahezu das Zehnfache. In den kommenden 28 Monaten verloren die Deutschen 600.000 Zivilisten in anglo-amerikanischen Luftangriffen und über zwei Millionen bei Flucht und Vertreibung, zudem vier Millionen Soldaten. Die Anti-Hitler- Koalition kostete ohne den Holocaust zehn Millionen Ziviltote und 11,9 Millionen Militärtote. Jugoslawien, dessen Armee 1941 nach vier Tagen geschlagen war, büßte in seinem daran anschließenden Partisanenkrieg 11,3 Prozent der Bevölkerung ein. Etwas war verkehrt gelaufen in dem Friedensbemühen. Dabei hatten Pazifisten und Kollaborateure vergeben, was sie zu vergeben hatten, geduckt und gebuckelt. Besser Hitler als Weltkrieg. Kurze Zeit später merkten alle, daß man beides zugleich erzielt hatte: Hitler als Weltanzünder. Das konnte man allerdings 1935 noch nicht wissen.
Damals gerieten in ganz Europa starke Männer in Mode, die veranlagungsmäßig säbelrasselten. Hitler zeichnete sich unter ihnen durch besondere Friedensbekundungen aus. Mit fast allen, die er später überfiel, schloß er laufend Nichtangriffs-, Freundschafts-, Abrüstungs- und Grenzgarantieverträge. Damit der Friede auch hielt, mußten allerdings zuvor einige notorische Spannungsherde bereinigt werden. Die Versailler Friedensordnung hatte nämlich dem Selbstbestimmungs- und Heimatrecht der unterlegenen Deutschen gewisse Schranken auferlegt. Das Rheinland war zur Sicherheit Frankreichs demilitarisierte Zone. Den Österreichern, die nach der Zerschlagung des Habsburger Reichs lieber Deutsche geworden wären, blieb dies durch Siegerdiktat verwehrt. Die Sudeten, die eigentlich Österreicher waren, erfuhren plötzlich, daß der tschechische Staat ihre deutschtümliche Autonomie unterdrückte. Schließlich lebte die Bevölkerung der alten deutschen Stadt Danzig unter der Fremdherrschaft einer Völkerbundverwaltung. All diese Diskriminierungen waren 1919 einmal zum Zwecke einer europäischen Machtbalance geschaffen worden. Wollte man den Deutschen und ihren Stammesbrüdern alle Selbstbestimmungsrechte einräumen, wäre die Sicherheit anderer dahin. Als Hitler ohne präzise Forderungen, aber ganz gekränkte Unschuld, die volle Autonomie der Germanen einklagte, witterte die Staatenwelt augenblicklich Unheil. Hitlers Anliegen leuchtete ein, aber der Mann nutzte es nur als Köder. England und Frankreich zweifelten keine Sekunde an Deutschlands zweitem Anlauf zur Kontinentalhegemonie. Warum auch nicht? Dies war geschichtlich nichts Außergewöhnliches. Ähnliches galt für den unterschwelligen Gewaltwink. Das übliche Druckmittel. Weil Politik sich zwischen Druck und Konzession bewegt, machten England und Frankreich fortan Konzessionen, damit Hitler vom Druck abließe. Eigener Druck stand ihnen nicht zu Gebote. Frankreich unterhielt ein respektables Heer, scheute sich aber, es einzusetzen. Hinter der Maginotlinie verschanzt, bestand die ganze Sicherheitsidee aus der Landesverteidigung. Manstein, Guderian und Rommel demonstrierten später, was sie taugte. Nach Auffassung der britischen Labour-Partei taugte nur die Abrüstung zur Sicherheit. Wie Autos zu Autounfällen, führen Waffen zum Krieg. So gesehen ist das richtig. Daß die Briten und Franzosen zu wenig Jäger, Bomber und Panzer besaßen, hat ihnen allerdings auch nicht geholfen. Der in der Bevölkerung grassierende Pazifismus erwartete vom Krieg den Weltuntergang. Die Bomber würden Städte und Siedlungen begasen, in Feuerhöllen verwandeln. Diese Waffen erwirkten keine Siege, sondern wechselseitige Ausrottung. Darum gab die französische Volksfrontregierung das Geld klüger für Sozialreformen aus statt für Abfangjäger.
Die Diplomatie mochte derweil irgendwas Attraktives aushecken, um Hitler zu beschwichtigen. Die Appeaser hielten dies im Grunde für Blödsinn. Weil sie prinzipiell den Krieg mieden, fiel ihnen aber nichts Besseres ein. So schob einer die Kapitulation auf den anderen. Hitler ließ sich das Rheinland, Österreich, das Sudetenland, Böhmen und Mähren darreichen und nutzte die kostbare Verhandlungszeit. 70 Prozent seiner Panzer waren bei der Annexion Österreichs im Straßengraben gestrandet. Die Bomberflotte, die London im Handumdrehen entsaftete, hat er sein Lebtag nicht besessen. Hilfsweise verfügte er über Menschenkenntnis. Er wußte die Menschen mit ihren eigenen Ängsten zu entwaffnen. Seine Generäle beteten, daß der Bluff nicht herauskäme. Ihre Wehrmacht war hastig zusammengeschustert. Selbst die Tschechoslowakei hätte sie im Frühjahr 1938 verscheucht. Aber auch Präsident Benesch wollte nichts riskieren. Im Frühjahr 1939 konnte Hitler glaubhaft drohen, Prag einzuäschern. Ein Jahr Verhandlungen hatten ihm das Sudetenland eingetragen, die Serienfertigung der Ju 88 und die Selbstauslieferung der Tschechei als Protektorat Böhmen und Mähren. Während die Appeaser in London und Paris sich das Hirn zermarterten, womit sie Hitler an den Verhandlungstisch locken könnten, feuerte dieser seine zaudernden Generäle an. Genügend gerüstet sei man nie, doch solange der Gegner von solchen Nullen angeführt werde, gelte es, die Gelegenheit zu nutzen. Hitlers Vernichtungswut und der Pazifismus der Appeaser haben mehr Menschenleben gekostet als alle vorigen Kriege zusammen. Doch die Vernichtungswütigen und die Nullen sterben nicht aus. Jörg Friedrich
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