: Nach gutem Start Ende für die »Möwe«
■ Der traditionsreiche Künstlerklub am Bahnhof Friedrichstraße/ Bertolt Brecht wohnte zeitweise dort
Mitte Eigentlich war der Start des traditionsreichen Künstlerklubs »Die Möwe« nach dem Fall der Mauer sehr vielversprechend. Wie in seinen besten Zeiten war das Haus mit der denkmalgeschützten Biedermeierfassade wieder ein Magnet für namhafte Künstler. Einige Theater des Westteils von Berlin hatten ihre Premierenfeiern in die üppig ausgestatteten Gründerzeiträume in der Hermann-Matern-Straße in Mitte verlegt. Das Restaurant, die elegante Nachtbar und die Bierstube mit zusammen zweihundert Plätzen zogen die Macher des Kulturlebens an.
Doch plötzlich und unerwartet hatte der Höhenflug der »Möwe« ein Ende. Seit Oktober sind die Schotten dicht, die etwa siebzig Mitarbeiter entlassen. Die Gewerkschaft Kunst, Kultur, Medien als Träger hofft, in etwa zwei Wochen eine Lösung gefunden zu haben. »Die Schließung hat uns aus heiterem Himmel getroffen«, sagt Wolfgang Winkler, Leiter der Theaterwissenschaftlichen Bibliothek, unter deren Dach die »Möwe« angesiedelt ist. Als »Liquidatoren« wurden der Hausmeister, der Leiter der Gastronomie, der Hauptbuchhalter und Winkler wieder eingestellt. Die Theaterbibliothek mit einem Fundus von rund 55.000 Einheiten (dabei über 100.000 Programmhefte) blieb mit zwei Arbeitskräften durch die Hilfe der Nachfolgeeinrichtung des Kulturministeriums vorerst geöffnet. Doch auch der Bibliothek steht das Wasser bis zum Halse. Seit Anfang des Jahres lebt sie auf Pump. Die Gewerkschaft schießt das Geld vor. Aber wie lange noch? Anträge an kulturelle Stiftungen und Vereine sind gestellt, können aber voraussichtlich erst im April Entlastung bringen. Zwischen 300.000 und 400.000 Mark liegt der jährliche Finanzbedarf.
Recht undurchsichtig ist, wieso »Die Möwe« überhaupt schließen mußte. Gerüchte, daß eine schwedische Millionärin das Haus gekauft habe, kursierten. Der westdeutsche Besitzer, der das Haus 1942 erworben habe, wolle Ansprüche geltend machen, sei aber verkaufswillig. Dutzende von Bewerbern habe es gegeben, »vom Puff über die Kebab- Bude bis zur Nobelkneipe«, sagt die Leiterin des Hauptvorstandes der Gewerkschaft, Ruth Martin. Doch ohne die Verpflichtung, mit dem Haus die Bibliothek und den Kulturauftrag zu übernehmen, gebe es keine Verhandlungen über das ehemalige Palais der von Bülows.
Sonderrationen für die Künstler
Den Auftrag des Hauses, bis Kriegsende Offizierskasino, hatte der Chef der Kulturabteiltung der sowjetischen Kommandantur, Major Mosjakow, im Juni 1946 so definiert: »Der Künstler kann und soll nicht als Einsiedler leben, er braucht den Umgang mit Menschen, mit Kollegen und mit den Trägern der bahnbrechenden Ideen. Zum Zentrum einer solchen künstlerischen Gemeinschaft soll nun dieses Haus werden.« Darüber hinaus sollten Künstler sich ohne Lebensmittelkarten sattessen können.
Carl Zuckmayer notierte darüber: »Die Russen hatten in ihrem kindlichen Enthusiasmus für ‘Kultura‚ als einzige Besatzungsmacht ein Klublokal für deutsche Künstler, Schauspieler, Schriftsteller eröffnet, die ‘Möwe‚ in der Neuen Wilhelmstraße, in dem die Mitglieder gegen geringes Entgelt Borschtsuppe und Würstchen, Bier, Wodka haben konnten. Dort traf sich die gesamte Kunstwelt Berlins.« Auch Max Frisch, Boleslaw Barlog, Stefan Heym und Alexander Dymschitz erwähnten das Etablissement, in dem Berühmtheiten wie Jean-Paul Sartre, Erich Kästner, Vittorio de Sica, Sophia Loren, Simone Signoret und Yves Montand verkehrten. Klaus Kinski vermerkte in seinen Erinnerungen (Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund): »Als Mitglied des Deutschen Theaters bekomme ich Bons, mit denen ich einmal täglich im Theaterklub essen darf. Im Klubrestaurant gibt es alles, selbst Krimsekt und Malossol-Kaviar.«
Auch Bertolt Brecht, der mit Helene Weigel zeitweise im Seitenflügel der »Möwe« wohnte, wurde von dem Haus inspiriert: »Nach seiner Heimkehr in die Hauptstadt verkehrte Herr B. eine Zeitlang in einem Künstlerklub, der nach einem Seevogel ‘Die Möwe‚ genannt worden war. Da man nur auf Empfehlung eines anderen hineinkommen konnte, wurde das Lokal zum Sammelpunkt. Auf dem Friedhof, neben dem Herr B. wohnte, entdeckte er die Gräber der Philosophen Johann Gottlieb F. und Georg Wilhelm Friedrich H. ‘Da werde ich mich beerdigen lassen‚, sagte Herr B., ‘und das wird Schule machen. Ein Kollege nach dem anderen wird mir folgen. Das wird dann die Möwe unter den Friedhöfen sein.‚«
Nach dem Mauerbau verlor die nach dem Theaterstück von Anton Tschechow und dem Moskauer Künstlertheater benannte »Möwe« an Bedeutung. Das dem FDGB unterstellte Haus wurde allmählich zum Klub für Gewerkschaftsbürokraten. Auch FDGB-Chef Harry Tisch, gegenwärtig unter dem Vorwurf der Bereicherung aus der Gewerkschaftskasse vor Gericht, ließ sich dort gelegentlich den Kinosaal und eine bestimmte Biersorte reservieren. Jutta Lehmer (dpa)
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