Wenn Meilensteine fallen

■ Hochtemperaturreaktor: Heißes Geschäft eingefroren ABT. VORTEIL DER KRISE

Berlin (taz) — Direkt aus Moskau hatten Handelsreisende in Sachen Atomtechnik Vollzug gemeldet: Ein Hochtemperaturreaktor (HTR) mit 200 Megawatt Leistung werde schon bald im sowjetischen Dimitrowgrad, 1.000 Kilometer östlich der Hauptstadt, in den Himmel wachsen. Der Bau des „Kugelhaufenreaktors“ in der UdSSR bedeute „einen Meilenstein für diese fortschrittliche Technologie“ und gebe „einen wichtigen Impuls für den künftigen kommerziellen Einsatz des HTR in der UdSSR und in anderen Ländern“.

Die frohe Kunde aus dem Osten datiert vom 24. Oktober 1988. Als gemeinsame Absender der Pressemitteilung firmierten die Reaktorbauer von Siemens und Asean Brown Boveri. Was zu Hause niemand haben wollte, sollte wenigstens im Ausland als Spitzenprodukt deutscher Ingenieurskunst vorgeführt werden. Der Meinung schloß sich auch der Bonner Oberforscher Heinz Riesenhuber an: Er verlieh dem von der Industrie ausgehandelten Vertrag mit seiner Unterschrift höhere Weihen.

Vergangenen Samstag nun lag der Meilenstein flach am Boden. Das „heiße Geschäft“ kommt nicht zustande. Kleinlaut teilte Siemens- KWU-Chef Heinrich von Pierer der 'Westdeutschen Allgemeinen Zeitung‘ mit, sämtliche Projekte mit dem Osten hätten sich zerschlagen. Deshalb werde man künftig kleinere Brötchen backen und die Anstrengungen zur Entwicklung eines Hochtemperaturreaktors „stark einschränken“. Die einst als wahres Wunderding verkaufte Reaktorlinie wird nun bis auf weiteres das bleiben, was sie immer war: ein Papiertiger. Während sich die Blaupausen bei den verhinderten Reaktorexporteuren stapeln, tendiert das in- und ausländische Interesse an dieser als „besonders gutmütig“ eingestuften Technologie gegen Null.

Unterdessen buddelt von Pierer die Löcher für neue Meilensteine: In der früheren DDR und der CSFR sollen die stillgelegten Russen- Meiler schon bald durch die gängigen 1300-Megawatt-Druckwasserreaktoren der „Baulinie '80 ersetzt werden. gero