Ganz spontan

Botho Strauß' „Schlußchor“ in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt  ■ Von Joseph von Westfalen

Manchmal wird man milde, wenn die Sache vorbei ist. Der Vorhang fällt, und die Strapazen des Im-Theater-Hockens haben sich dann eben doch gelohnt.

Wenn die Rezensentenmoral mich nicht gehalten hätte, wäre ich in der Pause verduftet und hätte am nächsten Tag ungefähr folgendes Gerücht verbreitet: Dasselbe Zeug wie immer bei Botho Strauß, Ihr wißt ja, dieses ewige gestelzte Herumgequatsche, ein paar Dutzend matte Witze sind schon drin, ansonsten alles weiß und schick wie immer.

Worum es geht? Fragt mich was anderes. Jede Nacherzählung, jeder Interpretationsversuch dieser dreieinhalbstündigen Aufführung gibt dem Stück eine Bedeutung, die es nicht hat. Diese Mühle schmiere ich nicht.

Wieso Botho Strauß von diesem schicken weißen Milieu nicht loskommt, ist mir schleierhaft. Chronische Haßliebe? Jedenfalls herrscht beste Stimmung im Premierenpublikum. Botho Strauß hält einem wieder mal den Spiegel vor — und bekanntlich schaut man sich auch seine grellsten Überzeichnungen mit Begeisterung an. Zumal Strauß die Figuren der Gesellschaft nicht eigentlich schlecht macht, sondern witziger als sie sind. In Wirklichkeit ist ein Schickimicki-Pressereferent bei Franz Burda oder sonstwo absolut niveaulos, wie Doppelagenten zu berichten wissen. Botho Strauß fabriziert also ein Zerrbild, in dem sich die Schickeria hingerissen erkennen will: Hat er uns nicht gut getroffen!

Der Erfolg des Bühnenautors Strauß beruht möglicherweise auf diesem Effekt. Die Begeisterung des Publikums, das die Späßchen der Aufführung masochistisch als Geißelung seiner Oberflächlichkeit und zugleich als künstlerische Überhöhung derselben erfährt — diese Begeisterung jedenfalls ist sehenswert.

Ein Beispiel: In der langen Fetenszene, die im herrschaftlichen Vorraum, sprich Vestibül, einer Altbauvilla spielt, steht eine Minirockschickse vor dem Spiegel und sinniert, ob sie ihrem Macker folgenden Satz sagen soll: „Ich bin eine lichte Perle auf schwarzem Samt.“ Müßte doch möglich sein, ihm das zu sagen, „ganz spontan“. Kaum erklingt das Reizwort, schon wiehert das Premierenpublikum. Hat der Strauß uns aufs Maul geschaut! Mitte der achtziger Jahre hatten Provinzkabarettisten das Großstadtvölkchen karikiert, indem sie es dauernd „ganz spontan“ sagen ließen. Da lachte man in der Provinz über die Großstädter. Jetzt, fünf Jahre später, funktioniert „ganz spontan“ nicht mehr als parodistisches Charakteristikum. Strauß hat es noch einmal benützt. Ein kleiner Fehler. Solche Fehler macht er nicht oft, ich will ihm den nicht ankreiden. Bezeichnend ist eben nur, welche Heiterkeit diese kleine abgestandene Formel in Deutschlands erlesenstem Theater auslösen kann. Das Stück ist flach, aber man lacht sogar noch unter seinem Niveau. Botho Strauß liefert gewissermaßen die glänzenden Hüllen, die langweiligen Inhalte sitzen im Publikum und freuen sich.

So oder so ähnlich hätte ich mich am Tag nach der Uraufführung geäußert, wenn ich sie in der Pause verlassen hätte. Nicht ohne fairerweise hinzuzufügen, daß der Anfang des Stücks wirklich lustig ist: Da haben sich fünfzehn Leute zum Gruppenbild aufgebaut, und während sie unentwegt geknipst werden und in die Kamera glotzen, führen sie eine famose Pseudounterhaltung — das ist zehn Minuten lang allererste Klasse. Bis es sich totläuft.

Nach der Pause werden wir weiter mit diesen gleißend weißen, totschicken Bühnenbildern traktiert. Schon am Tag seiner Uraufführung wirkt dieses als topmodern annoncierte Stück überbelichtet, überholt.

Das versprochene Deutschlandthema kam in den ersten zwei Akten bis zur Pause immer mal wieder vor, indem eine der Figuren völlig unmotiviert das Wort „Deutschland“ ins Geplapper schrie. Zu Beginn des dritten und letzten Aktes hocken ein paar Gestalten in einem Westberliner Schickeriarestaurant. Dort erfahren sie ziemlich unbeteiligt von der Öffnung der Mauer. Wenig später erscheinen tatsächlich zwei schmuddelige DDRler im piekfeinen Ambiente und werden natürlich angegafft und ausgehorcht, als kämen sie von einem anderen Stern. Das aalglatte Geplapper der Wohlstandsfiguren erfährt eine Irritation. Die Szene ist zwar unglaubwürdig und aufgesetzt, aber irgendwie kommt durch die Anwesenheit von unbeholfenen DDR- Figuren ein bißchen Wärme ins kühle Stück.

In dieser Szene taucht auch die Figur einer gewissen Anita von Schastorf auf, Tochter eines Nazi- Widerstandskämpfers, an dessen Legende herumgestrickt wird. Es ist die einzige Figur, für die man sich interessiert und der Gisela Stein ein schauriges sprödes Leben einhauchen darf. Die zwiespältigen Gefühle für diese Figur verlieren sich allerdings rasch beim letzten Bild des Stücks, als es diese Person mit dem deutschen Adler treibt.

Hier ist es endlich, das Mysterium. Thingstätte. Unausstehliches Geraune. Weg aller Witz. Das ist das einzig Gute an dieser widerlichen Schlußszene: Die Heiterkeit des exaltierten Publikums verfliegt. Ob die verlegen oder ergriffen schweigen, weiß ich nicht. Interessiert mich nicht. Mir egal, wie das gemeint ist. Die Dame redete in dunklen Worten zu einem Adler, und zwar in waschechter Klassikersprache. Lauter schöne Blankverse hört man da heraus: „Hörst du nicht an meiner Stimme, was ich meine? Bring' ich denn keinen Prahllaut raus, der deine Eifersucht erregt? Ein Vogel, der die Worte nicht versteht, muß doch die Töne immerhin erkennen.“ Symbolismus, Klassizismus, Mystizismus — aber kein Grund zur Aufregung.

Wäre das Stück vor einem Jahr aufgeführt worden, hätte die Nummer mit dem Adler vermutlich noch irgendeinen dunklen Sinn ergeben. Es ist das Pech des Autors, das die Geschehnisse der Zeit auch seine politische Raunerei völlig inaktuell gemacht haben. Deutschland treibt es im Augenblick einerseits mit der Friedenstaube, andererseits mit Giftraketen — aber nicht mit dem Adler.

Lauschangriffe in der Pause auf prominente Großkritiker ergaben, daß dieses Stück natürlich wieder mal kein Stück sei, sondern ein zusammengeschusterter Bilderbogen, aber eben köstlich garniert von der Hand des Münchner Theaterabgotts Dieter Dorn und seinem wunderbaren Ensemble. Und mit dem hinreißenden Bühnenbild von Jürgen Rose wird es dann schon brillant und wahre Kunst und irgendwann eben doch ganz großes Theater.

So sieht es aus. Es sind übrigens wirklich tolle Schauspieler am Werk, und offenbar ist alles mal wieder kongenial. Mehr Leben kann man diesen Hüllen nicht einhauchen.

Ich habe mir am nächsten Tag den Text des Stücks angesehen. Das kann man ganz unbefangen tun, weil sich nämlich der Eindruck der Aufführung über Nacht restlos verflüchtigt hat. Alle Witze vergessen — kein so gutes Zeichen.

Nach der Aufführung möchte man Botho Strauß raten, sich erstens als pointenschreibender Koautor zu verdingen und zweitens die Finger fortan doch bitte von den Geheimnissen des Daseins und der deutschen Seele zu lassen. Gelesen aber entfalten manche Passagen überraschenderweise doch ihre Reize. Das Mystifikationsfinale wirkt zwar immer noch entsetzlich artifiziell, aber ohne den Hokuspokus auf der Bühne nicht mehr so deutsch dräuend. Und die Konversationsplapperpassagen, aus denen das Stück oder Unstück zum größten Teil besteht, haben streckenweise Charme. Der liebeskranke Lorenz zum Beispiel begegnet an der Tür, hinter der er seine Angebetete weiß, einer Gestalt namens Rufer, und es entspinnt sich folgender Dialog:

Rufer: Raus oder rein? — Lorenz: Nein. Doch. Vorerst raus. Oder rein. Ich weiß es nicht. — Rufer: Sehen Sie sich vor: Irgendwann sind Sie verschwunden zwischen Tür und Angel. — Lorenz: Mein Gott, man hängt nun mal an dieser Tür. [...] — Rufer: Denken Sie immer: Sie könnten jederzeit die beiden Flügel aufstoßen und mit einem einzigen gewaltigen Schrei die ganze Versammlung auseinanderscheuchen. Bis ins Mark erschüttern. Dann kommen sie leichter über die Schwelle... — Lorenz: Na ja, stimmt sicher.

Ein sympathischer, poetischer Dialog, durchaus mit Seele. Im brillanten Klamauk der angeblich kongenialen Aufführung rutscht so eine Szene auf dem weißen Marmorboden einfach weg. Vielleicht muß man diese Figuren viel ernster nehmen. Vielleicht entfaltet dann so ein Stück seine Bedeutung. Vielleicht muß man Botho Strauß vor seinen Verehrern retten.