Die Gratwanderung der Biotechnologie

Auf der 9. Dechema-Jahrestagung in Berlin strauchelten Biotechnologen selbstbewußt auf ihrem gesetzlich geebneten Weg  ■ Von Sascha Karberg

Wie sehr die Biotechnologie auf dem Grat wandert, hat die 9. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Chemisches Apparatewesen (DECHEMA) in der Berliner Kongreßhalle am Alexanderplatz in der vergangenen Woche bewiesen. Den Balancierstab fest in der Hand strauchelt sie selbstbewußt in Richtung einer rettend höheren Utopie. Der Weg ist durchaus gangbar, trotzdem zeigt die junge Industrie Schlagseite. Nach rechts blickt sie in ein tiefes Tal, aus dem ungelöste Umwelt- und Ernährungsprobleme, hoffnungslose Krebs- und Aids-Bekämpfung und Erbkrankheiten nach Lösung schreien, und links in ein Unwetter, von dem man nicht weiß, wann und mit welcher Windstärke es losbricht, gespeist von Folgeerscheinungen und Ängsten — vor Eingriffen in die Schöpfung, vor unkontrollierbaren Freisetzungen und Verseuchungsgefahr — das bedrohlich am Horizont aufzieht. Dazwischen auf dem Weg vernünftiger Ausgeglichenheit zu bleiben ist schwierig, denn vieles zerrt am Gleichgewicht.

So beugten sich etwa 900 Chemiker und Biotechnologien aus den alten und neuen Bundesländern auf der Jahrestagung wieder ein Stückchen weit nach rechts hinaus, konnten einige Löcher durch die Wolkendecke, die über dem ganzen Tal liegt, schlagen.

Rückstand der deutschen Gentechnik ist aufgeholt

Hans-Jürgen Rehm, Professor am Institut für Mikrobiologie an der Universität Münster und Vorsitzender des Fachausschusses „Biotechnologie“ der Dechema, zog in seiner Eröffnungsrede die Bilanz für das Jahr 1990:

—Der Rückstand der deutschen Gentechnik konnte durch die Ratifizierung des Gentechnikgesetztes und Unterstützung des Bundesforschungsministeriums nahezu aufgeholt werden. Höchst wird Human- Insulin, BASF den Tumor-Nekrose- Faktor mittels genetisch manipulierter Bakterien herstellen.

—Der Herstellung von Proteinen und Biosensoren steht eine interessante Entwicklung bevor, ebenso wie tierischen Zellkulturen, die immer erfolgreicher spezielle Antikörper, Proteine und Viren herstellen können.

—Dank Gentechnik haben sich bessere Entwicklungsmöglichkeiten für die Bekämpfung von Pflanzenkrankheiten ergeben.

—Die mikrobielle Entschwefelung von Kohle ist in der Pilot-Phase.

—Die Reinigung von Abwässern in Hochreaktoren ist sehr erfolgreich entwickelt worden.

Interessante Ausblicke, die von den 13 biotechnologischen Arbeitskreisen (von „Biologische Grundlagen der Stoffproduktion“, über „Tierische Zellkulturtechnik“ bis hin zu „Angewandte Gentechnik“) der Dechema gemacht wurden; am Anfang Chemische Technik und Biotechnologie, deren Polonaise auf dem Grat sich inzwischen auch 100 Biotechnologen aus den neuen Bundesländern angeschlossen haben.

Am Umweltproblem der Bundesrepublik wird der Drahtseilakt der Biotechnologen besonders sichtbar. Auf der Tagung wurde die wichtige Aufgabe, die den Umweltbiotechnologen in den nächsten Jahren in der Bundesrepublik zukommen wird, besonders betont, denn verantwortungsloser Mülltourismus und verfehlte Umweltpolitik der SED haben ein Umweltdesaster der neuen Bundesländer herbeigeführt. Ohne massive Hilfe aus Bonn werden sich Seen, Böden und Luft nicht erholen, allein für die alten Bundesländer sind für die nächsten 10 Jahre 250 bis 325, für die neuen 215 Milliarden DM für den Umweltschutz in einer Bedarfschätzung veranschlagt.

Hier beginnt die Gratwanderung: Eine umweltfreundliche Sanierung ist ohne Biotechnologie nicht denkbar. So verändern beispielsweise Bodenkontaminationen mittels chemischer Verfahren oder Waschungen die Bodenbeschaffenheit. Dagegen bauen Mikroorganismen Dioxine schonend ab, die Bodenstruktur bleibt erhalten, neues Leben auf vorher verseuchter Erde wird möglich. In der Diskussion wurde dann ausgelotet, wie sich biotechnologische Verfahren am Umweltschutz beteiligen können. Im Ausschuß „Mikrobiologische/biotechnologische Bodensanierung“ der Dechema wird eine Studie erstellt, die dem Bundesministerium für Umweltschutz Entscheidungshilfe bei der Vergabe von Mitteln zur Bodensanierung sein soll.

Erste Ergebnisse zeigen, daß organische Naturstoffe von Mikroorganismen in der Regel schnell abgebaut werden. Persistente Substanzen häufen sich in der letzten Zeit, aber es konnten eine Reihe von Mikroorganismen gefunden werden, die auch Benzol, halogenierte Kohlenwasserstoffe, polychlorierte Biphenyle und Dioxine abbauen können. Organisch hochbelastete Abwässer aus der Lebensmittel- und Zelltstoffindustrie können mit hoher Rate und Effizienz mittels anaerober Bakterienmischkulturen gereinigt werden, wobei die organischen Schmutzstoffe weitergehend zu Biogas abgebaut werden. Seit zwei Jahren wird gesetzlich gefordert, Nitrate und Ammonium aus dem Abwasser zu entfernen, den Einsatz von nitritifizierenden und denitrifizierenden Bakterien.

Freisetzungsversuche stehen noch aus

Aber viele Fragen sind noch lange nicht geklärt, so daß Rehm „intensive Forschung“ auf dem Gebiet der Mikrobiologie im Bodenbereich einklagte. Offen sei, welchen Einfluß die Bodenbeschaffenheit auf die Einlagerung von Schadstoffen habe, wie sie den mikrobiellen Abbau beeinflusse, welche Schadstoffe sinnvoll abgebaut werden können, für welche Schadstoffe die vorhandene Mikroflora verwendet werden könne und für welche neue Kulturen gezüchtet werden müssen und wie Mikroorganismen in den kontaminierten Boden gebracht werden und wie dieser dann mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden könne.

Rehm glaubt, daß beispielsweise die Eindämmung des Ölteppichs im Golf mittels Mikroorganismen (übrigens keineswegs genetisch manipulierter) das kleinere Übel gegenüber einer verheerenden Ölpest sei. Wobei das Übel in einer vage erahnten, aber keinesfalls bewiesenen Gefahr für das Biotop bestehe.

Um das Gleichgewicht der Biotechnologie zu erhalten, müßte hier staatlich unterstützte Forschung nachhaken, den vermeintlichen Zeitdruck zum Einsatz einer Technologie, deren Folgen man noch nicht abschätzen kann, lindern, indem Technik-Folgenforschung die Grundlagen für klare und harte Richtlinien gibt, den schützenden Zaun für den wandernden Forscher. Seit der Sicherheitskonferenz von Asilomar, 1975, hat es keine nennenswerte Sicherheitsforschung in der Gentechnologie gegeben.

Es scheint, als würde zu tief ins Tal geschaut. Den 21 Vortragenden und insgesamt 400 Posterausstellern (300 davon aus den neuen Bundesländern) weht eine steife Brise von Westen um die Ohren, aber sie hören nur die Marktschreier aus dem Tal. Im Zusammenhang mit dem europäischen Binnenmarkt drängte Rehm auf eine deutsche Entscheidung zu Freisetzungsversuchen. „Viele Länder, auch in Europa, haben gentechnologisch veränderte Mikroorganismen in die Umwelt gebracht. In Deutschland wird man sich hierüber auch entscheiden müssen.“

Die „Schäden“, die die „sehr unsachlich geführten Diskussionen um die Gentechnologie“ hervorgerufen hätten, bedauerte der Mikrobiologe Rehm, als er die öffentliche „Akzeptanz“ in seiner Rede bewertete. Firmen seien mit ihren gentechnischen Produktionsanlagen ins Ausland gegangen und haben dadurch Arbeitsplätze abgebaut. Er wünschte sich eine weniger politisch gefärbte, thematisierte Diskussion. Sehen die Beteiligten dieser Debatte zu, kann an einem Absturz keinem gelegen sein.