Stolpes Notruf in Bonn angekommen

■ Der Osten der Republik ist pleite, der Westen profitiert vom „Aufbau“ der neuen Bundesländer

Berlin (taz) — Nach dem fünften Kanzlergespräch über die Lage in den neuen Bundesländern ist die Botschaft in Bonn angekommen. Manfred Stolpe (SPD), Ministerpräsident von Brandenburg und einer der rund 40 Gesprächspartner im Kanzleramt, sieht dort „endlich die Einsicht über die wirklichen Verhältnisse in den Ostländern“.

Denn eines zeichnet sich mittlerweile deutlich ab: Industrie und Handel in den alten Bundesländern ziehen aus der deutschen Einheit satte Gewinne, und mit ihnen profitieren die Staatssäckel der Westländer durch Steuermehreinnahmen, während die neuen Bundesländer offensichtlich langsam ausbluten. Nach Auffassung des Präsidenten der Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Heinrich Weiss, wirkt der wirtschaftliche Aufbau der ostdeutschen Länder auf Westdeutschland wie ein Konjunkturprogramm. Der Wachstumsschub sei so stark, daß sich Deutschland — gemessen an den USA und Westeuropa — zu einer „Wachstumsinsel“ entwickelt habe.

Aus dem größten Bundesland Nordrhein-Westfalen meldete gestern das Statistische Landesamt die höchste Wachstumsrate des geschätzten nominalen Bruttoinlandsprodukts seit 1979. Es lag 1990 um 7,6 Prozent höher als noch ein Jahr zuvor. Die positiven Einflüsse auf die Wirtschaftsentwicklung, heißt es aus Düsseldorf, seien auch von der starken Güternachfrage durch die Wirtschafts- und Währungsunion beeinflußt worden.

Dagegen werde die Talfahrt der ostdeutschen Wirtschaft, so BDI- Präsident Weiss, länger und einschneidender sein als angenommen. Als drei Haupthemmnisse für die „schwierige Anpassung“ der neuen Bundesländer nannte er die technologische Rückständigkeit und damit fehlende Konkurrenzfähigkeit ostdeutscher Produkte, das Wegbrechen der „angestammten Märkte in der Sowjetunion und Osteuropa“ sowie die auf Ostunternehmen zukommenden höheren Kosten zum Beispiel im Energiebereich.

Die Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeber weiß Abhilfe. Zur Erleichterung der Übernahme von Betrieben, so deren Präsident Klaus Murmann, müsse das Arbeitsrecht modifiziert werden. Der Abbau von Belegschaften sei unvermeidlich, weitere Kurzarbeit helfe nicht weiter. Außerdem überstiegen die Sozialpläne häufig die wirtschaftliche Substanz der Unternehmen.

Manfred Stolpe erwartet bis Ostern „durchgreifende Maßnahmen“ gegen den drohenden Konkurs der neuen Bundesländer. Aus den noch im Februar zu erwartenden Regelungen über Ausgleichsmaßnahmen erhofft sich der Brandenburger Ministerpräsident „vielleich sechs bis zehn Milliarden Mark“, die zwischen Bund und Ländern aufgeteilt werden. Barbara Geier