Mentaler Wechsel zum Nulltarif

Zum stillen Tod des traditionsreichen Claassen Verlages  ■ Von Stefan Koldehoff

Zur 50-Jahr-Feier des Verlages im Winter 1984 in Hamburg konnte einer seiner bekanntesten Autoren nicht anwesend sein. An den Verlagsleiter schickte Erich Fried deshalb sein Gedicht Später Ritt, erweitert um „einen weniger trüben Glückwunschreim... Vielleicht als Grußbotschaft verlesbar“:

„Und wollen wir unser Pferd

mutig weiterreiten

und versuchen es und uns selbst

zu retten beizeiten

Fünfzig Jahre dauert der Ritt schon trotz allen Gefahren. Ich hoffe, wir reiten noch weiter in weiteren fünfzig Jahren.“

Vier Jahre später starb der Reiter im Sattel: Während einer Lesereise erlag Erich Fried am 2.November 1988 in Baden-Baden seinem langen Krebsleiden. Das Pferd überlebte ihn um fast genau zwei Jahre. Im Herbst 1990 ließen seine Eigentümer mit dem Claassen Verlag eines der traditionsreichsten und einstmals engagiertesten deutschen Verlagshäuser verhungern, nachdem es zuvor systematisch zugrundegeritten worden war: Zum Gnadenbrot reicht es wohl nicht. Zwar erschien im Dezember 1990 noch eine dünne Vorschau auf das Frühjahrsprogramm; sie allerdings gilt Kennern der Verlagsbranche nur noch als aufwendig gestaltete Begräbnisanzeige: Auf zwölf Seiten werden neben Neuauflagen des Claassen-Klassikers Vom Winde verweht und Hoimar von Dithfurts Bestseller Innenansichten eines Artgenossen lediglich zwei Neuerscheinungen vorgestellt. Ihnen folgen, konsequenterweise unter der Überschrift „Zur Erinnerung“, vier Seiten mit den Backlist-Titeln der vergangenen Jahrzehnte.

Die Vertriebsleitung der Düsseldorfer Econ-Verlagsgruppe, zu der seit 1967 auch der Claassen Verlag gehört, hatte auf dem armseligen Katalog bestanden — andernfalls wären große Remittenden aus dem Buchhandel die sichere Folge gewesen. Nach langem internen Hin und Her rang sich dann auch Econ-Geschäftsführer Hero Kind eine Sprachregelung ab, die den Erhalt des Claassen- Imprints als „literarische Nische“ beinhaltet. Abnehmen wollte dem studierten Juristen, der gern verkündet, er wäre lieber Autohändler als Verlagsleiter geworden, das semantische Überlebenstraining niemand. „Econ-Gruppe will sich künftig nur noch ,Econ, Econ, Econ‘ buchstabieren“, kritisierte selbst das sonst vorauseilend gehorsame Branchenblatt 'Buchreport‘, und Springers konservatives Flaggschiff 'Die Welt‘ kommentierte bedauernd, „daß der erste antifaschistische Verlag nach dem Kriege lediglich noch das literarische Deckmäntelchen eines prosperierenden Wirtschafts- und Sachbuchverlags sein wird, dem die Belletristik mehr Last denn Lust bereitet“. Inzwischen kommt dem Claassen Verlag nicht einmal mehr diese peinliche Aufgabe zu. „Weil umsatzstarke Titel immer mit Econ identifiziert werden“ und seiner Meinung nach für zwei Verlage unter einem Dach kein Platz ist, setzte Kind durch, was er als „mentalen Wechsel“ und „eine neue Art des Verlags“ bezeichnet: Als Verlag ist Claassen seit Januar 1991 faktisch tot. Nur sein Name bleibt bestehen.

Gegründet hatte das Unternehmen der 1895 in Zürich geborene Deutschrusse Jewgenij Schmuilow, der nach seiner deutschen Einbürgerung 1917 den russischen Vaternamen ablegte und den deutschen Nachnamen seiner Mutter annahm. Als Eugen Claassen studierte er in München Philosophie und wurde dann Lektor, später Leiter des Frankfurter Societäts-Verlages. Als nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten die Arbeit in dem Frankfurter Verlag ohne faule Kompromisse nicht mehr möglich gewesen wäre, kündigte Claassen und gründete gemeinsam mit seinem Freund Henry Goverts ein eigenes Unternehmen in Hamburg. In einem 1953 veröffentlichten Aufsatz Über das Verlegen schreibt er über seine Motive, 1934 in Deutschland einen neuen Verlag zu gründen: „Es kam darauf an, vorhandene traditionelle Werte zu bewahren, eine Tradition von Jahrhunderten nicht abreißen zu lassen, das Gefühl für Qualität zu steigern, den Sinn für Sprache zu schärfen, echte Toleranz zwischen den großen geistigen Gruppen zu stärken, das Gemeinsame gegen völkischen Ungeist zu beleben, Dichtung, Kunst, Philosophie, Geschichte gegen Verfälschung zu schützen.“ Zum Freundeskreis des seit 1926 verheirateten Ehepaares Eugen und Hilde Claassen zählten zu diesem Zeitpunkt Theodor Adorno, Walter Mehring und der Maler Willi Baumeister.

Eugen Claassen entdeckte das Werk Herman Melvilles für den deutschen Sprachraum, veröffentlichte bis zu seinem Tod im Jahre 1955 Texte von Autorinnen und Autoren wie Ernst Schnabel und Emil Barth, Marieluise Kaschnitz und Alexander Mitscherlich. Obwohl durch die wirtschaftlichen Gegebenheiten zu einer starken Titelreduzierung genötigt, schaffte es der Verleger auch während des Nationalsozialismus und Krieges, seinen Verlag der ideologischen Einflußnahme der Nazis weitestgehend zu entziehen — bisweilen durch riskante Manöver. 1938 sollte bei Claassen der Roman Die Verstoßene des Margaret Mitchell-Übersetzers Martin Beheim- Schwarzbach erscheinen. Claassen hatte den Text nicht, wie allgemein üblich, den staatlichen Zensoren vorgelegt und ohne deren Genehmigung einfach zu drucken begonnen. Am 18.Dezember 1940, zwei Jahre nach Ersterscheinen, verbot die Gestapo die Auslieferung des Titels.

Claassen, der sich auch nicht scheute, während des Krieges das Werk des nach Südamerika ausgewanderten Hans Elsas unter dessen Pseudonym José Antonio Benton zu veröffentlichen und noch 1943 die Erzählung Das Irrlicht von Horst Lange in einer Ausgabe mit 32 Zeichnungen des phantastischen Malers und Grafikers Alfred Kubin herauszugeben, konnte sogar 1944 den französischen Pazifisten Jean Giono überzeugen, seine Hommage Pour saluer Melville in einem deutschen Verlag zu veröffentlichen. Ebenfalls gegen Ende des Krieges erschienen dann allerdings auch einige nicht immer kritische Kriegsbeschreibungen und -erinnerungen, die selbst Eugen Claassen nicht verhindern konnte. 1953 resümierte er: „Dieser Verlag besteht nunmehr zwanzig Jahre, er ist erstaunlicherweise weder durch die Diktatur noch durch Krieg und die Nachkriegsjahre zu peinlichen Kompromissen genötigt gewesen.“

Nach dem Krieg — der Verlag Claassen & Goverts erhielt sofort 1946 von den Alliierten die notwendige Lizenz — wagte Claassen als einer der ersten den Versuch einer Auseinandersetzung mit der umittelbar zurückliegenden Vergangenheit. Erich Fried, Ingeborg Drewitz, Elisabeth Langgässer, Iring Fetscher, die wiederentdeckte Irmgard Keun und nicht zuletzt Heinrich Mann, dessen bundesdeutsche Werkausgabe seit 1958 bei Claassen erscheint, trugen hierzu bei. Eugen Claassen selbst und seiner Frau Hilde, die nach seinem Tod den Verlag bis 1967 von Hamburg aus weiterführte, lag immer besonders an der italienischen Literatur. Cesare Pavese und Natalia Ginzburg, Elsa Morante und Elio Vittorino fanden durch sie auch in Deutschland ihr festes Lesepublikum. Die Claassen- Autoren Pablo Neruda, Patrick White, Odysseas Elytis, Elias Canetti und William Golding wurden zwischen 1971 und 1983 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

1967 verkaufte Hilde Claassen den Verlag an die Econ Verlagsgruppe, die ihrerseits seit 1982 ein Tochterunternehmen der Rheinisch- Westfälischen Verlagsgesellschaft (RWV) ist. Dem Essener Medienkonzern, zu dessen Blättern die 'Neue Rhein-/neue Ruhr-Zeitung‘ (NRZ) zählt und die über Beteiligungen mit dem WAZ-Konzern verbunden ist, steht Kinds beruflicher Ziehvater, der Kunstmäzen Dietrich Oppenberg, vor. Er bestellte den Juristen zum Geschäftsführer der Verlagsgruppe.

Was Hero Kind, der sich je nach Lage Geschäftsführer, Programmdirektor oder auch Verleger nennen läßt, selbst von seinem Unternehmen und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwartet, hat er im Leitbild der Econ-Verlagsgruppe schriftlich niedergelegt: „Wir konzentrieren uns bei unserer Arbeit auf eine Zielgruppe. Dies ist der Kreis berufstätiger Frauen und Männer zwischen 30 und 60 Jahren, die in verantwortlichen Positionen oder als Selbständige in allen Bereichen der Wirtschaft tätig sind und sich durch eine traditionell-gebildete, eine aufgeschlossen-liberale oder humanistisch-fortschrittliche Haltung auszeichnen. (...) Zwischen uns und unserer Zielgruppe wollen wir einen dichten kulturellen Zusammenhang erreichen.“

Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schickt Kind folgerichtig zu kostspieligen „Identity Styling“-Beratungen, und für seine Zielgruppe kauft er auch schon einmal an allen Einsprüchen aus dem Lektorat und an seinem Mitgeschäftsführer Michael Staehler vorbei Titel ein, die ihm geeignet scheinen. Der Softporno Serenissima von Erica Jong floppte ebenso wie der ebenfalls von Kind persönlich für eine sechsstellige Dollarsumme eingekaufte Erstlingsroman Das schöne Biest von Soap-Opera-Diva Joan Collins. Beide Kind-Favoriten liegen in den Lagern der Gütersloher Verlagsauslieferung schwer wie Blei. Auch für den selbsternannten Trendforscher und Econ-Autor Gerd Gerken (Management by Love) ist Kind keine Mark zu schade. Mit immer neuen Garantiesummen und absurd hohen Ladenpreisen für Gerkens in Buchform gebrachte Luftblasen bindet er den Ferrari-Fahrer an den Verlag. Daß Gerken in einem seiner letzten Buchmanuskripte Adolf Hitler und die NSDAP als Beispiel für die optimale Umsetzung des Corporate- Identity-Gedankens propagieren wollte, stört dabei nicht.

Econ-Verlagsleiter Dr.Frank- Lothar Hinz, der gegen diese Programmpolitik offenen Protest einlegte, wurde mit Claassen Verlagsleiter Dr.Michael Schmidt und dessen Sekretärin im Herbst auf die Straße gesetzt. Claassen-Lektor Christian von Ditfurth schmiß das Handtuch, nachm der zuvor vergeblich mit Kind über den Kauf des Claassen-Imprints verhandelt hatte: „Nachdem ich mich kaufinteressiert zeigte, hat Econ in einer Panikaktion versucht, so viele Claassen-Autoren wie möglich zu sich herüberzuziehen. Auf das, was dann noch übriggeblieben wäre — eine Halde alter und dann meist unattraktiver Titel — habe ich dankend verzichtet.“ Von Ditfurth arbeitet heute freiberuflich.

Rund 41 Millionen Mark Umsatz erwirtschaftete die Econ-Gruppe im vergangenen Jahr mit ihren 55 MitarbeiterInnen. Durch die Neugründung der „Econ Executive GmbH“ für Wirtschaftstitel liegt der jährliche Umsatzzuwachs im Moment bei hervorragenden zwölf Prozent.

„Da ich leider oder Gott sei Dank bei der Produktion von Claassen niemals an Gewinne dachte, konnte auch mit jungen Autoren experimentiert werden“, hatte Econ-Gründer Erwin-Barth von Wehrenalp noch 1983 an die 1989 verstorbene Hilde Claassen geschrieben. RWV-Chef Dietrich Oppenberg versprach anläßlich des 50jährigen Claassen-Jubiläums: „Für den Claassen Verlag ist bezeichnend, daß die Grundstrukturen in all den Jahren sichtbar blieben, wie viele Menschen auch an dem Programm gearbeitet haben. So wollen wir, liebe Hilde Claassen, auf Ihren Wegen weitergehen. Wir können es ohne Furcht, weil es gute Wege sind. Darum blicken wir mit Ihnen mutig in die Zukunft.“

Was wird aus der „literarischen Nische“ nach dem „mentalen Wechsel“? „Wenn wir einen Pavese oder eine Kaschnitz brauchen“, läßt Hero Kind verlauten, „kommen die natürlich bei Claassen.“ Paveses Agentin sieht das anders und denkt auch über die Auflösung von Verträgen weiterer italienischer Dichterinnen und Dichter nach. Das deutsche Verlagsgesetz eröffnet diese Möglichkeit, wenn sich die Strukturen und das Umfeld eines Verlages maßgeblich verändern. Das allerdings scheint dem Juristen Hero Kind nicht bekannt zu sein: Ralph Giordano, der ebenfalls wie eine Reihe anderer prominenter Autoren auf Kündigung seines Vertrages bestand, drohte er mit juristischen Schritten, mußte die Aussichtslosigkeit dieses Vorhabens aber schnell einsehen.

An die Stelle des heimlich, still und leise beerdigten Claassen Verlages ist schon eine neue Econ-Tochter getreten. Ab Frühjahr 1991 vertreibt der Verlag in Zusammenarbeit mit einer Frankfurter Produktionsgesellschaft auch Management Videos, darunter ein Porträt des katholischen Sozial- und Wirtschaftstheologen Oswald von Nell-Breuning. Titel der VHS-Kassette für 230 Mark: Das Unbequeme ist erfolgreich.