Chiles „Schlußstrich“ unter die Pinochet-Diktatur

■ Bericht der Menschenrechtskommission „Wahrheit und Versöhnung“ an Präsident Aylwin übergeben/ Namen bleiben unter Verschluß

Santiago/Montevideo (taz/ips) — Chiles Präsident Patricio Aylwin nahm gestern den Bericht einer Regierungskommission über die Menschenrechtsverletzungen unter der Militärdiktatur 1973-1990 entgegen. „Wahrheit und Versöhnung“ hieß die im vergangenen April eingesetzte Kommission unter Vorsitz des Juristen Paul Rettig. Doch die ganze Wahrheit bleibt vorläufig versiegelt — und damit könnte auch die Versöhnung auf der Strecke bleiben.

Die bislang umfangreichste und erste offizielle Dokumentation über den schmutzigen Krieg der chilenischen Militärregierung gegen die Opposition umfaßt nach inoffiziellen Angaben zwischen 4.000 und 5.000 Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen, darunter illegale Hinrichtungen, das Verschwindenlassen von Oppositionellen, Attentate und Folter mit tödlichem Ausgang. Die dokumentierte Zahl der Veschwundenen soll bei rund 1.000 liegen, um die Hälfte höher als bisher von humanitären Organisationen vermutet.

Präsident Aylwin wird den Bericht der Rettig-Kommission einige Wochen studieren und im März zur Veröffentlichung freigeben. Die Namen der für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen wird Aylwin unter Verschluß halten. Chile, so der Präsident, braucht zwar die Wahrheit, um eine Versöhnung zu ermöglichen. Der Wahrheit sollte aber die Vergebung folgen — und daher sollte der Bericht keinen Anlaß für Vergeltung liefern.

Aylwins Standpunkt ist vor allem von Rücksichtnahme auf die Armee gekennzeichnet. Ex-Diktator Pinochet kann nach einer umstrittenen Verfassungsbestimmung bis 1997 als Oberbefehlshaber der Heeres im Amt bleiben. Zwischen Regierung und Pinochet sollen zwar Verhandlungen über seinen möglichen Rückzug bis Ende 1991 stattfinden. Im Gegenzug würde sich die Regierung verpflichten, sich in allen politischen und moralischen Angelegenheiten zurückzuhalten, die das Ansehen Pinochets oder des Heeres beeinträchtigen könnten. Doch Innenminister Krauss hat kürzlich dahergeschwätzt, daß die Regierung mit Pinochet als Oberkommandierendem bis Ende des Jahrzehnts leben könnte.

Menschenrechtsorganisationen überlegen sich unterdessen, die geheimgehaltenen Namen auf eigene Verantwortung zu veröffentlichen. Warum, so argumentieren sie, sollte niemand erfahren, daß der nette Nachbar nebenan ein Folterer ist?

„Der Rettig-Bericht hat vor allem eine Funktion“, sagt Andres Chadwick, Abgeordneter der rechten UDT, „er soll die Konflikte überwinden, die mit den Menschenrechten zusammenhängen, und mit Harmonie den Blick in die Zukunft richten.“ Das wird er wohl auch tun. Die Regierung will unter das Thema einen Schlußstrich ziehen. Gaby Weber