Durch Kriegsmüdigkeit zur Vormachtstellung

Die iranische Bevölkerung unterstützt den Neutralitätskurs von Präsident Rafsandjani/ Radikale Agitatoren, die das Land zum Kriegseintritt an der Seite des Irak bewegen wollen, haben keine Chance/ Warten auf die Antwort von Saddam Hussein  ■ Aus Teheran Ali Sadrzadeh

„Imam Khomeini: Saddam Hussein hat keinen anderen Ausweg als Selbstmord zu begehen“: Dreifarbig und kunstvoll ist diese Parole auf einer langen Mauer der staatlichen Organisation für wirtschaftliche Mobilisierung der Stadt Karadj zu lesen. Eine Straßenkreuzung weiter könnte man meinen, der Autor einer anderen Parole hieße George Bush, obwohl hinter dem Namen des iranischen Revolutionsführers Imam Khomeini zu lesen ist: „Ein Kompromiß mit Saddam Hussein kommt einer Gotteslästerung gleich.“

Noch vor zwei Jahren konnten die Iranreisenden am Rande der Zufahrtsstraße zum Teheraner Flughafen neben solchen Parolen auch alle Arten von Zeichnungen und Karikaturen des irakischen Präsidenten sehen, der als Inkarnation des Bösen dargestellt wurde. Die meisten Parolen sind inzwischen weggewischt oder übermalt worden. Doch diese gehässige Anti-Saddam-Stimmung ist im Denken vieler Iraner immer noch vorhanden. Sie sehen Saddam als einen machtgierigen Menschen, dem alles zuzutrauen ist.

Trotz dieser für jeden Beobachter wahrzunehmenden Haltung der überwiegenden Mehrheit der iranischen Bevölkerung wagte eine Reihe von Parlamentsabgeordneten den Versuch, das Blatt zu wenden. Vier Tage vor dem Kriegsausbruch am Golf hielt der berühmt-berüchtigte Revolutionsrichter Chalchali eine scharfe Rede im Parlament und forderte Regierung und Volk dazu auf, Saddam Hussein Beistand zu leisten. Es habe in der islamischen Tradition Sünder gegeben, die später bereut hätten und sogar als Märtyrer in die Geschichte eingegangen seien. Auch Saddam Hussein habe sich zu seiner Sünde bekannt, dem Iran ein Friedensangebot gemacht und, noch wichtiger, sich gegen den großen Satan, die USA, gestellt. In der Lehre des Imam Khomeini komme dem Kampf gegen den großen Satan eine größere Bedeutung zu als anderen Überlegungen.

Die Rede Chalchalis wurde auszugsweise in den iranischen Zeitungen abgedruckt. Wäre sie im vollen Wortlaut erschienen, hätte sie wahrscheinlich kaum einen Umschwung in der öffentlichen Meinung bewirkt. Denn zwei Tage nach Kriegsbeginn versuchten es die radikalen Abgeordneten des Parlaments noch einmal und riefen zur einer Demonstration auf, die Solidarität mit dem irakischen Volk und Abscheu gegen die USA dokumentieren sollte. Von den etwa 14 Millionen Einwohnern der Stadt Teheran, wo jahrelang nichts leichter war, als Hunderttausende gegen die USA auf die Straße zu brinen, kamen lediglich 3.000 bis 4.000 Menschen.

Bis zu diesem Tag hatte die Regierung nur verhalten über ihre neutrale Haltung im Golfkrieg gesprochen. Noch wußte man offenbar nicht, wie die Menschen auf eine massive Bombardierung des muslimischen Nachbarlandes Irak reagieren würden. Sogar der amtierende Revolutionsführer Khamenei hielt sicherheitshalber eine Rede, deren Grundton sich ausschließlich gegen die USA richtete. Khamenei versuchte jüngst erneut, einen Umschwung einzuleiten, und erklärte den ersten Tag der zehntägigen Revolutionsfeierlichkeiten zum Tag der Solidarität mit dem muslimischen Volk des Irak. Doch die wollte nicht aufkommen.

Die Wunden des achtjährigen Krieges mit dem Irak sind noch nicht verheilt, die Trümmer nicht aufgeräumt, und die Erinnerung an die Raketenangriffe gegen iranische Städte sind noch lebendig. Das wurde zunehmend offensichtlich. Da konnte Staatspräsident Rafsandjani in Aktion treten, dem es mehr um eine praktische Politik geht als um eine Wiederholung der Prinzipien der islamischen Revolution. Der nationale Sicherheitsrat, dem er vorsteht und in dem alle Kommandanten der Streitkräfte ebenso vertreten sind wie Khomeinis Sohn Ahmad und andere einflußreiche Personen, verkündete nun die „aktive“ Neutralität des Landes. „Neutralität bedeutet aber keineswegs Gleichgültigkeit“ — dieser Standardsatz wird von jedem wiederholt, dem es gestattet ist, im Fernsehen aufzutreten oder ein Zeitungsinterview zu geben. Nach diesem Motto bemühte sich nun Rafsandjani, eine Feuerpause im Golfkrieg zu erreichen. Nachdem der größte Teil des militärischen Potentials des ehemaligen Kriegsgegners zerstört worden ist, liegt es im Interesse des Iran, die Integrität des Iraks zu bewahren. Der Krieg soll nicht außer Kontrolle geraten und eine Teilung des Nachbarlandes auf jeden Fall vermieden werden. Sonst könnte es zu einer Entwicklung kommen, die nicht in das Teheraner Konzept für „die Zeit danach“ paßt.

Die Vorboten eines möglichen künftigen Konfliktes sind bereits da. Seit Tagen existiert neben dem heißen Krieg am Golf ein Medienkrieg zwischen Iran und der Türkei. Die türkischen Zeitungen malen eine iranische Drohung an die Wand und berichten von geheimen Absprachen zwischen Bagdad und Teheran, nach denen die Region zwischen beiden Seiten aufgeteilt werden soll. Die iranischen Tageszeitungen weisen auf die Ambitionen Özals hin, die 1920 dem osmanischen Reich verlorengegangene ölreiche Provinz Mossul zurückzugewinnen und die Entstehung eines kurdischen Staates im Norden des Irak verhindern zu wollen.

Nach dem Besuch des türkischen Außenministers scheinen die Wogen etwas geglättet zu sein. Der Gesandte aus Ankara wartet in Teheran ebenso auf ein Signal Saddam Husseins wie der Vizeaußenminister der Sowjetunion, Alexander Belogonow. Doch noch hat Saddam Hussein zu den „Ideen“, wie Rafsandjani seine Vermittlungsbemühungen nennt, keine Antwort gegeben. Rafsandjani scheint aber bereits sein Ziel erreicht zu haben. Er wollte die internationale Anerkennung und die Zusage der Amerikaner, nach dem Krieg aus der Golfregion abzuziehen. Nicht nur Uno-Generalsekretär Perez de Cuellar und die sowjetische Regierung folgten ihm anerkennd, sogar der französische Staatspräsident Mitterrand griff zum Hörer und würdigte gegenüber Rafsandjani die neutrale Haltung Irans. Und nachdem sich die USA vergewissert hatten, daß trotz der inzwischen 134 im Iran gelandeten irakischen Kampfflugzeuge an der Neutralität Teherans nicht zu zweifeln sei, räumt auch Washington ein, Iran werde bei der Gestaltung der politischen Zukunft der Region ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Die Kriegsmüdigkeit der Iraner verschafft somit der islamischen Republik die Chance, jene Vormachtstellung im Golf zurückzugewinnen, die das Land vor der Revolution innehatte.