Warten auf den nächsten „Huaico“

In der Hauptstadt Perus herrscht der zeitlose Zustand des Vergammelns/ Den Lebensunterhalt verdienen zu können, ist für die meisten „Limenos“ eine Frage der Improvisationskunst/ Rituale geben den Halt in einer Welt katastrophischen Verfalls — Eindrücke aus Lima  ■ Aus Lima Ciro Krauthausen

Der Strand heißt El Silencio, „Das Schweigen“. Die Badesaison beginnt gerade erst, und nur ein paar Jugendliche der High-Society Lima sind mit ihren Autos zu einem Sonnenbad angefahren. Vor den hohen Dünen steht eine verkommene Baracke aus Bastmatten. Sie ist unbewohnt, brüchig und vom Seewind zermürbt. Auf einer ihrer durchlöcherten Wände liest sich in großen weißen Lettern: „Nicht anrühren! Schießbefehl!“ Es ist weder zu ersehen, was geklaut werde, noch, wer schießen könnte. Ein tristes Bild an einem grauen Strand.

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Lima vergammelt. Von den Hauswänden blättert die Farbe ab, die Straßen sind schmutzig, die Autos unglaublich alt. Während in anderen südamerikanischen Großstädten sich das Stadtbild mit neuen Gebäuden, Brücken und Straßen von Jahr zu Jahr verändert, hat sich in Lima während der letzten zehn Jahren nichts getan, und es wird sich wohl auch im nächsten Jahrzehnt nichts tun. Schön an Lima sind die Menschen: das Savoir-vivre der alteingesessenen Limenos sowie das Völker- und Kulturengemisch vieler Perus, das sich in der Hauptstadt zusammenfindet. Die freundlichen Menschen aber schämen sich für ihre Stadt. Die Verkäuferin und der General, der Taxifahrer und die Gewerkschafterin — alle reden sie vom „deterioro“ Limas, dem Herunterkommen der Hauptstadt. Die Bischofskonferenz hat in den Nationalfarben rot-weiß einen Aufkleber herausgegeben: „Dies ist meine Heimat, und hier bleibe ich.“ Viele PeruanerInnen wollen das Land verlassen. Hunderttausende sind schon gegangen — in die USA, nach Japan, nach Europa.

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Sonntagnachmittag in der Plaza de Acho, der Stierkampfarena. Die Zuschauerränge sind von unten nach oben durchnummeriert — umso näher an der Arena, umso teurer wird es. Unten sitzt die weiße Oberschicht: elegante Frauen und schöne Männer. Es riecht nach französischem Parfüm, auf den Hemdtaschen ist Pierre Cardin zu lesen, und der mitgebrachte Wein ist ein erlesenes Tröpfchen. Wichtig ist es, gesehen zu werden. Weiter oben auf den Rängen riecht es nicht mehr so gut, wird die Bekleidung bescheidener und der Wein billiger: Hier hat sich ein bißchen Mittelschicht eingefunden.

Die Unterschicht, die Mehrheit der Bevölkerung, bleibt indes draußen. Sie klebt in armseligen Hütten an den die Stierkampfarena umringenden Berghängen. Punkt 15.30 Uhr beginnt die Corrida: Der Reiz des Stierkampfes ist nicht der Inhalt, das Töten des Stieres, sondern die Form, die penibel vorgeschriebene Zeremonie. Rituale müssen beibehalten werden — selbst wenn rundherum alles zugrunde geht.

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Ausflug an einen kargen Strand in der Umgebung Limas: Ein Hund namens „Buzo“ ist mit von der Partie und läßt keine Ruhe. Immerfort fängt er an zu kläffen, fletscht die Zähne und jagt veränstigten StrandgängerInnen hinterher. Erst nach einer ganzen Weile wird deutlich, daß Buzo nicht wahllos angreift. Der aus den Fluten steigende Surfer ist dem Köter egal. Nicht so der Eisverkäufer mit seinen geflickten Hosen — ihm wird hinterhergejagt. Buzo mag sie nicht, die „Cholos“, die aus den Anden in die Städte emigrierten Indios. Sie riechen anders.

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Als am Wahlabend Alberto Fujimoris überwältigender Sieg über den weißen und arroganten Mario Vargas Llosa feststand, erklommen drei Männer das Podium: der Einwanderer Alberto Fujimori, der Indio und spätere Vizepräsident Máximo San Román und Carlos Garciá, jener Küstenbewohner und Führer evangelischer Sekten, der nach seinen Diensten im Wahlkampf schnell vom Präsidenten abserviert werden sollte. Als die drei zusammen die Arme hoben, wurde der Kontrast zu dem geschaßten Kandidaten Mario Vargas Llosa und seinem Team deutlich: Es war ein anders Peru, als das der weißen, aristokratischen und arroganten Costeós, das da an die Macht gekommen war.

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Gut, daß der Hund Buzo nicht in den Präsidentenpalast hineinkommt. In Abwesenheit des bestimmt ebenfalls von Buzo verabscheuten Japaners Fujimori regierte dort Ende November der aus Cuzco stammende Vize- und Senatspräsident Máximo San Román. Der wohlbeleibte ehemalige Bäckereigehilfe ist ein herzlicher Mensch. Freunden klopft er fortwährend auf die Schultern, und nennt sie „hermano“, Bruder, oder „viejo“, Alter. Zusammen mit den geladenen Journalisten, die sonst über seine Arbeit im Kongreß berichten, schaut sich der dunkelhäutige Máximo den traditionellen Wachwechsel der Präsidentengarde an: Noch ein Ritual, das sich Tag für Tag pünklich um ein Uhr mittags auf dem weitläufigen Hof des Palastes wiederholt. Die mit blau-roten Husarenuniformen aus der Zeit der Unabhängigkeitskriege gegen die spanische Kolonialmacht bekleideten Soldaten marschieren im Stechschritt auf und ab.

Doch etwas fällt aus dem strengen Ablauf der Zeremonie heraus: Bei den Märschen, die da gespielt werden, handelt es sich nicht um die übliche horrende militärische Blasmusik. Nein, es sind Huaynos, Melodien aus den Anden, zu Ehren des Cholos Máximo San Román. Später prostet der Vizepräsident seinen BesucherInnen in dem mit Blattgold überdeckten Salón Dorado des Palastes fröhlich zu und unterhält sich mit dem Kellner — nicht auf Spanisch, sondern in Quechua, in der Sprache der Indios. Von den Umstehenden, meist weißen Journalisten, versteht kaum einer etwas.

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Vor den Toren des Präsidentenplastes beginnt das Reich der „Informales“, jener HändlerInnen und Handwerker, die abseits jeder staatlichen Regulierung, sich „informell“ ihren Lebensunterhalt verdienen. Máximo San Román, der es vom einfachen Bäckereigehilfen zum stolzen Besitzer einer Backofenkleinindustrie gebracht hat, war einer von ihnen. Das Zentrum Limas mit seinen kolonialen und republikanischen Bauten ist ein einziger großer Markt der Informales. Man breite ein Tuch auf dem dreckigen Bürgersteig aus und häufe darauf die zu vermarktende Ware. Welche Ware? Da sind dem Unternehmergeist kein Grenzen gesetzt: Steckdosen oder Schokoladen, die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder Unterhosen, geschmuggelte Zigaretten oder Plastikeimer. Wer es schafft, sich zum stolzen Besitzer eines kleinen Kioskes heraufzuarbeiten ist aus dem Schlimmsten heraus: Die Gewinne können das Gehalt eines Angestellten um ein Vielfaches übertreffen.

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Noch besser geht es den Informales, die eine kleine Werkstatt aufgemacht haben und etwa Schuhe oder einfache Möbel herstellen. In Villa El Salvador, jener riesigen Landbesetzung aus den sechziger Jahren, dieheute mehr als 300.000 Menschen beherbergt, ist unter der Leitung eines linken Bürgermeisters und einer basisdemokratischen Stadtverwaltung ein erstaunlicher Modellversuch gestartet worden: Inmitten der Wüste entsteht dort ein 179 Hektar großer Industriepark für die informellen Kleinbetriebe. Sicher, es geht langsam voran — die Wirtschaftskrise hat vielen Betrieben zu schaffen gemacht. Und doch: In dem Industriepark werden etwas dicke, blaue Winterjacken hergestellt — für frierende Bürger der Sowjetunion. „Ich hoffe, daß da in zwei, drei Generationen eine neue Unternehmerschicht heranwächst“, meint ein Sozialforscher, „eine, die ihr Geld nicht wie die jetzige ins Ausland schafft, sondern es in Peru investiert.“

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Fahrt in einem der im Unterschied zu den unzähligen Kleinbussen nicht scheppernden und mit Sitzen ausgestatteten städtischen Busse, die vor Jahren aus Ungarn eingeführt wurden. Die Informales, Abteilung fliegende HändlerInnen, stehen an den Haltestellen Schlange, um sich auf die Busse zu verteilen und ihre Schokoladen an die Passagiere zu bringen. Bezahlt wird gleich nach dem Einsteigen an der vorderen Tür beim Busfahrer. Da hinten nicht zugestiegen werden darf, ist es unmöglich, schwarz zu fahren. Das ändert nichts daran, daß es trotzdem Kontrolleure gibt, die in jedem zweiten Bus von den Passagieren die Fahrkarte verlangen. Ein Irrsinn, der woanders schon lange wegrationalisiert worden wäre.

Nicht so in dem aufgeblähten peruanischen Staatsapparat. Abends meckert Präsident Alberto Fujimori im Fernsehen, viele Beamten täten nichts anderes, als Kreuzworträtsel zu lösen. Eigentlich unerhört, daß ein Präsident so über seine Untergebenen herzieht. Tags darauf macht das Kamarateam einer Nachrichtensendung eine unangekündigte Stippvisite in einem Ministerium. Tatsächlich: Der eine Beamte ist damit beschäftigt, sich inmitten der Bürozeit ein Butterbrot zu streichen, seine Kollegin hat eine Zeitung neben sich aufgeschlagen — und löst Kreuzworträtsel.

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Caroline erzählt, wie sie neulich ihr Geld verlor. Sie sei mit einem geliehenen Auto zu ihrer Freundin gefahren und wurde von Verkehrspolizisten angehalten. „Ihren Führerschein, bitte.“ Carolina gab dem Schutzmann den Führerschein und konnte nach kurzer Prüfung weiterfahren. Bei ihrer Freundin angekommen, bemerkte Caroline, daß sie ein Bündel Geldscheine verloren hatte. Sie hatte es in die Plastikschatulle des Führerscheins gesteckt. Ein bedauerlicher Fehler, denn so werden in Peru routinegemäß Verkehrspolizisten bestochen. Der Beamte behielt das Geld.

„Coimas“, Bestechungen, fließen in Peru überall. Nur so können kleine, schlechtbezahlte Staatsbedienstete ihren Lebensunterhalt verdienen. Hohe Funktionäre dagegen finanzieren sich mit Coimas ihre luxuriösen Lebensbedingungen. „Hier ist jeder zu bestechen“, befindet ein peruanischer Beobachter, „vom Türsteher bis zum Präsidenten.“ Präsidenten? Von Alan García wird gemunkelt, er habe als relativ armer Mann die Macht übernommen und den Präsidentenpalast mit vier Eigentumswohnungen wieder verlassen.

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Zum Jahreswechsel in Lima. Kleine, rund fünfzig Leute starke Streiktrupps verschiedener Gewerkschaften ziehen durch die Innenstadt. Sie wedeln mit ihren Lohntüten, auf denen Gehaltssummen eingetragen sind, die noch nicht einmal zur Ernährung des Arbeiters, geschweige denn seiner Familie ausreichen. Plötzlich kommt Unruhe in die Gruppe und lärmend beginnt sie druch die grauen Häuserschluchten zu rennen. Reifen werden angesteckt, Steine geschmissen, Schaufenster eingeschlagen. Im Nu nimmt ein Einsatztrupp der Polizei mitsamt einem Sonderwagen, der einen schlappen Wasserstrahl versprüht, die Verfolgung auf. Über mehrere Straßenblocks hetzen DemonstrantInnen und Polizisten durch den Smog — verfolgt von gestreßten Reportern, die mit viel zu schweren Kameras versuchen, am Ball zu bleiben. Der Spuk ist schnell wieder vorbei, die Demonstration löst sich auf, und Polizei und Presse trollen sich zu dem nächsten Streiktrupp einer anderen Gewerkschaft. So geht das Tag für Tag — bis zu viermal. Der Ausnahme- als Normalzustand.

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In dem schmutzigen Betonbau des Kongreßzentrums findet eine Podiumsdiskussion linker Parteiführer über die Zukunft des Sozialismus statt. „Wir Linke haben den liberalen Wirtschaftsreformen nichts entgegenzusetzen.“ Solche selbstkritischen Bemerkungen sind die Ausnahme. Scheuklappen: Die kritische Lage im Ostblock sei eine „propagandistische Übertreibung des Kapitalismus und seiner Presse.“ Etwa 150 ZuhörerInnen drängen sich in dem kleinen Saal, die Luft ist stickig, das Gerede auf dem Podium leer. Draußen vor der Tür hat sich eine Gruppe jugendlicher Parteigänger aufgestellt. Ernsten Blickes heben sie handgeschriebene Plakate hoch: „Die Basis verachtet Euch. Ihr habt kein Recht dazu, von Erneuerung zu reden.“ César, ein Student, weiß von hierarchischen Parteistrukturen, Persönlichkeitskult und kleinkarierten Zwistigkeiten zwischen den Führern zu berichten. Deswegen seien die Wahlen verloren gegangen — wo doch noch vor drei, vier Jahren die Vereinigte Linke, die sich 1990 spaltete, stärkste Partei Perus war. César plädiert für eine gänzliche Erneuerung von der Basis her — ohne die alten Führer. Auf seinem Plakat steht eine unmißverständliche Nachricht an die Chefs und ihre Pläne, eine neue linke Partei zu gründen: „Die Toten stehen nicht wieder auf.“

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Kindergartenfest in einem Elendsviertel Limas. Im Speisesaal wird erzählt, neulich sei gleich um die Ecke eine ganze Familie an Tuberkulose gestorben. Die verkleideten Kinder kommen. Ein kleiner Junge hat sich bunte Federn an den Kopf gebunden — ein Amazonasindio. Ein Mädchen, mit einem bunten Rock, Sandalen und einer weißen Mutter kommt daher. Die Mutter hat sich nicht verkleidet und sieht doch, wenn auch weniger elegant, genauso aus. Sie ist erst vor ein paar Jahren aus den Anden nach Lima gezogen. Plötzlich huscht rechts etwas Grünes vorbei. Da marschiert ein Soldat mit Rucksack, Gewehr und Tarnuniform. Sechs Jahre ist er vielleicht alt. Er könnte der Trickkiste eines Vietnamfilmes entsprungen sein, so echt sieht er aus. Der Krieg, dort oben in den Anden und auch in Lima selbst, er ist nicht gespielt.

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In dem öden Wüstental nicht weit von Lima donnert es. Eine Frau blickt in Richtung der mit großen, mit Steinen übersäten Schlucht, die steil zu den Hochanden führt, und bemerkt entmutigt: „Der nächste Huaico kommt bestimmt.“ Huaico: Der Begriff stammt aus der Sprache der Indios und ist älter noch als das Inkareich. Eine Schlammlawine wird von Wolkenbrüchen in den Anden ausgelöst und ergießt sich, Tonnen Steine vor sich her schiebend, über die trockenen Wüstentäler der Küste. Jahr für Jahr. Der nächste Huaico kommt bestimmt. Er könnte alles unter sich begraben: die armselige Hütte der Frau, die Straße, den kümmerlichen Olivenhain. Es donnert.