AKW-Unfall in Japan: Knapp vorbei am Super-GAU
■ Bislang hatte von allen Ländern Japan am unbekümmertsten sein Atomenergieprogramm durchgezogen. Vielleicht ist es jetzt damit vorbei, nachdem am Samstag im AKW Fukui bei Osaka ein Rohr platzte und große Mengen Radioaktivität in die Luft entwichen.
Klare Winterluft liegt am Samstag nachmittag über der japanischen Hauptinsel Honshu. Es ist einer der wenigen wirklich kalten Tage im Jahr. Im Ballungsgebiet um Osaka, in dem über zehn Millionen Menschen leben, müssen die Menschen ihre kleinen, in Japan weitverbreiteten Elektroöfen weit aufdrehen, um es ein wenig warm um die Füße zu haben. Und natürlich laufen deshalb auch die Atomkraftwerke von Fukui auf Hochtouren. Etwa 80 Kilometer nördlich der Metropole, schon an der Nordküste Japans, dampfen neun Leichtwasserreaktoren. Sie liefern den Atomstrom für Osaka, seit Jahren störungsfrei. Es ist Samstag, 13 Uhr 40 Ortzeit.
Ortsansässige sprechen später von einer Explosion. Nicht der übliche weiße Dampf sei dann aus den Kühltürmen aufgestiegen. Doch Angst habe ihnen das nicht gemacht. Den Atomingenieuren von Fukui muß es wohl anders ergangen sein, als das Unvorhersehbare urplötzlich eintritt.
Um 13 Uhr 40 meldet das Meßgerät am Ausgangsventil des Sekundärkreislauf vom Reaktor Mihama2 in Fukui die Gefahr. In diesem herkömmlichen Druckwasserreaktor (DWR) transportiert der Sekundärkreislauf normalerweise lediglich Wasserdampf zur Turbine des Generators. Doch nun zeigt das Meßgerät statt der üblichen Spuren Radioaktivität (800 Impulse) immerhin 2.000 Impulse. Acht Minuten später reagieren die Ingenieure. Sie schieben einen Filter vor das besagte Ausgangsventil und stellen den Reaktor auf Niedrigleistung. Wieder zwei Minuten später wendet sich das Blatt. Aus dem Kern des Reaktors kommt ein Notsignal. Dort ist jetzt der betriebsübliche Wasserdruck von 157 bar auf alarmierende 128 bar gefallen. Druckverlust im Reaktor, so wissen die Kontrolleure von Fukui, führt automatisch zum Temperaturanstieg, Temperaturanstieg kann den Reaktorkern zur Schmelze bringen. Doch weiter können sie nicht denken. Zwölf Sekunden nach Eintreffen des Notsignals aus dem Reaktor, noch um 13 Uhr 50, schaltet sich automatisch das Notkühlsystem von Mihama2 an. Es ist höchste Zeit. Das Meßgerät am Sekundärkreislauf meldet nicht mehr 2.000, sondern inzwischen 1,5 Millionen Impulse.
Jetzt ist klar, daß große Mengen radioaktiven Dampfes vom Sekundärkreislauf in die Umwelt gelangen. Zwischen 20 und 40 Tonnen Wasser aus dem Primärkreislauf gelangen in den Sekundärkreislauf. Über die durch den Überdruck des Dampfs geöffneten Sicherheitsventile und über die Dampfturbine gelangt die Radioaktivität aus dem Sekundärkreislauf ins Freie. Dennoch ist das Problem zu diesem Zeitpunkt zweitrangig — Hauptsache, der Wasserdruck im Reaktorkern kann wieder hergestellt werden. Und das gelingt.
Innerhalb von 50 Minuten werden nun mit Hilfe des Notkühlsystems 100 Tonnen Wasser aus dem Sicherheitstank in den Primärkreislauf von Mihama2 gepumpt. Der Wasserdruck im Reaktor steigt wieder, die Temperatur sinkt. Die unmittelbar drohende Gefahr einer Kernschmelze, wie sie in Tschernobyl zur Katatrophe führte, ist damit ausgeschlossen. Um 14 Uhr 14 meldet Mihama2, die Situation sei wieder unter Kontrolle.
Wenige Stunden später hat ganz Japan den Golfkrieg vergessen. Gegen 17 Uhr meldet der halbstaatliche Fernsehsender NHK den schwersten Reaktorunfall in der Geschichte Japans. Am nächsten Tag füllt der Unfall sämtliche Titelseiten der Tageszeitungen. „Wir standen am Rande des Abgrunds“ — mit diesem Ausruf des landesweit bekannten AKW-Kritikers Ginzaburkora Takagi (siehe Interview) titelt sogar 'Asahi Shinbun‘, die einflußreichste Tageszeitung des Landes.
Was war in Fukui wirklich geschehen? Viele Japaner, durch die Geschichte von Hiroschima und Nagasaki vorgewarnt, wollten es genau wissen. Sie bekamen bessere Antwort als erwartet. Entgegen ihrer früheren Praxis, wo Unfälle in japanischen Atomkraftwerken oft erst Wochen später bekannt wurden, gaben die Behörden von Fukui den Zwischenfall von Mihama2 sofort bekannt. Ebenso lakonisch wie vielsagend gab das zuständige Industrie- und Außenhandelsministerium in Tokio bekannt: „Dies ist das erste Mal, daß das Notkühlsystem im Ernstfall eingesetzt werden mußte. Die Menge des Wasserverlustes im Primärkreislauf ist bisher einmalig.“
Seit Hiroschima haben viele Japaner das atomare Risiko ausgeblendet, die Regierung allen voran. Erst zwei Jahre nach Tschernobyl formierte sich eine lautstarke Anti- AKW-Bewegung im Land, die nun auch in den japanischen AKWs ein Risiko erkannte. Freilich fehlte den Kritikern bislang ein Beleg. Jetzt haben sie ihn.
Umso peinlicher für die japanischen AKW-Betreiber, daß der Unfall dort geschah, wo Kritiker wie Takagi ihn seit Jahren voraussagen. Nämlich im Dampferzeuger eines Druckwasserreaktors. Bereits 1975, 1979 und 1983 hatten Rohrleitungen im Dampfwasserreaktor von Mihama zwei Risse gezeigt. Nun handele es sich nicht mehr um „Risse“, wie ein Behördensprecher zugab, sondern um ein „Loch“. Schon in zehn Tagen, so behauptete der gleiche Sprecher, sollen Ingenieure ins Innere des Reaktors eintauchen und den entstandenen Schaden beheben. Mihama2 sei nun für mehrere Monate stillgelegt. Beiläufig wurde gesagt, daß die Menge der ausgetreten Radioaktivität lediglich 0,135 Curie betrage, dreimal mehr als täglich üblich. Niemand konnte diese Angabe überprüfen.
Die Zukunft der Atomkraft aber wird in Japan neu diskutiert werden. „Technische Probleme in unseren Kraftwerken gibt es nicht“, hatte der Leiter des AKW-Programms beim Hersteller Mitsubishi Heavy Industries, Tetsuo Hineno, der taz noch vor kurzem erklärt. „Probleme haben wir nur mit der neuen Anti- AKW-Bewegung.“ Spätestens seit Samstag, 13 Uhr 40, ist Hineno im Unrecht. Mihama2 ist als Lizenzreaktor von Westinghouse auch ein Mitsubishi-Produkt. Georg Blume, Tokio
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