Integrative Einschaltquoten

■ Der Streit um Radio 100: Wo ist der Platz zwischen Privaten und Öffentlich-Rechtlichen?

Seit Wochen sendet Radio 100 Spendenaufrufe und fordert die Zusammenlegung aller linken Konten. Dem alternativen Sender steht das Wasser bis zum Hals. Zwei Anbieter wollen in die Firma investieren, der französische Medienmulti NRJ und die Mediengruppe Schmidt & Partner. Doch hinter den Kulissen toben die Kämpfe um das richtige Überlebenskonzept. Die Frage, welche Funktion ein alternatives Radio in der Stadt haben könnte, gerät darüber fast in den Hintergrund.

Von Dorothee Hackenberg

Der Laden ist nicht reformfähig. Da sitzt doch jeder auf einem Misthaufen und kräht. Man sollte nicht Millionen von Mark in den Müllhaufen werfen.« Der das sagt, ist nicht etwa der oberste DDR- Rundfunkabwickler Mühlfenzel, sondern der Geschäftsführer des seit vier Jahren unermüdlich sendenden, aber finanziell darbenden Privatsenders Radio 100. Thomas Thimme würde »seine« ProgrammacherInnen am liebsten »auf Professionalität abchecken« bzw. gleich »Profis von außen« zukaufen. Und zwar mit dem Geld des französischen Medienmultis Nouvelle Radio Jeunesse (NRJ). Dessen anteiliger Einstieg in die Radio-100-Gesellschaft war vom Kabelrat, dem fünfköpfigen Gremium, das die Vergabe von Frequenzen an private Anbieter zu entscheiden hat, bereits Ende Januar abgesegnet worden.

Doch die Belegschaftsmehrheit spielte nicht mit. Sie hält, organisiert in MitarbeiterInnenverein e.V. und Tolleranz e.V., insgesamt 38 Prozent der Gesellschaftsanteile. Die RadiomacherInnen favorisieren einen anderen Einleger, der zwar weniger Geld, aber weitgehende personelle Kontinuität und redaktionelle Selbstbestimmung garantieren soll: die Mediengruppe Schmidt & Partner (Elefantenpress, 'Freitag‘, 'Titanic‘). Der Verkauf von Anteilen an NRJ sei demgegenüber, so argumentieren die Befürworter von Schmitdt & Partner, keine Alternative, sondern ein Ausverkauf. Bei einer radikalen Schrumpfung des Mitarbeiterstamms, der Einfrierung des Wortanteils auf 27 Prozent (inclusive Werbung und Nachrichten) und einem durchkommerzialisierten Musikkonzept bleibe vom inhaltlichen Profil des Senders nichts mehr übrig.

Was genau dieses Profil ausmacht bzw. welchen Stellenwert Radio 100 in der Medienlandschaft einnimmt oder zukünftig einnehmen könnte, sollte bei einer von Netzwerk e.V. initiierten Veranstaltung »Hörerinnen fragen — Radio 100 antwortet« Ende letzter Woche im Kaufhaus Kato geklärt werden. Daß dies keine Frage von akademischem Interesse ist, wurde gleich beim ersten Schlagabtausch zwischen dem Geschäftsführer und dem Vorstand des MitarbeiterInnenvereins, Werner Voigt, deutlich: Was dem einen der »Misthaufen«, ist dem andern eine reformwillige Gesamtredaktion, die »Hierarchien und Delegationen ertragen kann«, weil sie »an einem Strang zieht, statt Durchmarschversuche zu unternehmen oder zu vermuten«. Doch nicht nur ein Ende der zermürbenden inneren Richtungskämpfe, auch ein Mindestmaß an finanzieller Grundversorgung gehören zu dieser ziemlich bescheidenen »Vision« der ProgrammacherInnen: »Ein Sechs- bis Achtstundentag, Urlaub und die ausreichende Versorgung mit Arbeitsgeräten.«

Über der Behandlung des Problems, mit wessen Hilfe jene Vorbedingungen für eine von allen geforderte Professionalisierung des Senders erreicht werden könnte, ging aber die Veranstaltung und mit ihr die politische Diskussion zu Ende, noch bevor sie überhaupt angefangen hatte. Denn die regelmäßig erhobene bange Frage, wessen Geld, das des »französischen Lokalradiofressers NRJ« oder das des »Immobilienhändlers Schmidt & Partner«, nun eigentlich das schmutzigere sei und ob man nicht — wenn schon, denn schon — gleich in die Vollen greifen sollte, läßt außer acht, daß man sich erst einmal öffentlich darüber verständigen müßte, welches Interesse, welche Erwartungen, welche Bedürfnisse das kommerzielle Minderheiten- und Zielgruppenprogramm Radio 100 weckt und befriedigt, das man sanieren und/oder retten will.

Selbst unter den Förderinnen und Freundinnen des Projekts gehen da die Meinungen auseinander. Recht nüchtern beurteilt Margit Miosga, freiberufliche Moderatorin der SFB- Frauensendung Zeitpunkte, die als eine von acht Aufsichtsrätinnen die Gründung und die ersten Jahre von Radio 100 miterlebte, inzwischen die Relevanz des Alternativfunks. Ihrer Meinung nach hat Radio 100 eine Chance verpaßt. Zum einen gäbe es die »große Erfolgsstory Schamoni — ein Radio, das ich unerträglich finde in der Art, wie dort Leute angesprochen werden, dieses Kumpelhafte, widerwärtig«, zum anderen den SFB, der sich daraufhin auf seine Stärke, Information und Hintergrund zu liefern, konzentriert hätte. Bei Radio 100 aber sei im großen und ganzen »nicht nur der Tenor, auch die Machart diegleiche wie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk«. Daß es auf Radio 100 die »besonderen Informationen« gebe, hält Miosga schlicht für »ein Gerücht«: »Es ist nicht so, daß im Öffentlich-Rechtlichen nur die Knechte des Kapitals sitzen und bei Radio 100 die freischwebenden Rebellen.« Schließlich müßte sich der Sender nun mal zur Hälfte aus Werbung finanzieren und sollte sich endlich zu dem bekennen, was er ist: ein kommerzieller Betrieb.

Genau umgekehrt argumentiert Alice Ströver, medienpolitische Sprecherin der AL-Fraktion, die sich ausdrücklich gegen das »faktische Ende des unabhängigen Radios« ausgesprochen hat. Innerhalb des durch keinerlei Gebühren subventionierten Medienprojekts sei vieles versucht worden, »was ich mir vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk wünschen würde«. Denn zunehmend bliebe der Staatsfunk der Bürgerin den Beweis schuldig, warum sie für einen kaum wahrnehmbaren Unterschied Gebühren zahlen soll: »Die Überanpassung der Öffentlich- Rechtlichen an die Privaten ist so groß, daß vielfach kein Profil mehr erkennbar ist.« Die jüngsten Fällle von Zensur, Abmahnungen und die Suspendierung von Satire im SFB, seien schlimme Beispiele für die Verinnerlichung dieser Haltung.

Demgegener hält Ströver die deutliche redaktionelle Selbstbestimmung von Radio 100 als »hohes Gut« für unbedingt erhaltenswert. Das Profil des Senders bestimmen nach ihrer Einschätzung hörernahe Zielgruppensendungen wie die Schwulensendung Eldoradio, aber auch und gerade die fremdsprachigen Sendungen — allen voran das in Berlin einmalige kurdische Programm. Beides fiele einer an hohen Einschaltquoten interessierten Programmstruktur, wie sie der Konzern NRJ vor hat, zum Opfer. Dabei würden gerade die 30.000 Berliner Kurden die Einschaltquoten bedeutend in die Höhe treiben, meinte ein kurdischer Redakteur bei der Diskussion im Kato.

Ein Profil zu verlieren hätte Radio 100 allein aus seiner Geschichte heraus, findet Eva Emenlauer, die sich seit zehn Jahren im »Verein für Medienarbeit« mit Forschungs- und Bildungsarbeit im Bereich Neue Medien beschäftigt. Der Verein ist aus »Anti-Kabelgruppen« entstanden, die schon damals das, »was heute eingetreten ist, nämlich eine unglaubliche Verflachung des öffentlich- rechtlichen Programms«, bekämpften. Er ist auch einer von acht Untergesellschaftern des »Anderen Radio Berlins« (ARB), eines der Anbieter von Radio 100. Was damals aus einer Idee des »Freien Radios« entstanden sei, konnte, so Emenlauer, trotz der Auflage einer überwiegenden Finanzierung durch Werbung, ein Programm bewahren, das von starker Authentizität und Nähe zu den gesellschaftlichen Gruppen bestimmt sei, für die es Programm macht. Dies beweise nicht zuletzt die Summe von 250.000 Mark, die inzwischen durch Spenden aufgebracht wurden. Bei Radio 100 sei der Glücksfall gegeben, daß es eine weitgehende Identiät zwischen Herstellern und Käufern der Ware Programm gebe, womit das Radio, ganz brechtisch, auch heute als wechselseitiger Kommunikationsapparat dienen könnte. Selbst wenn man nicht wie sie eine »Vertreterin der Unverkommenheit«, was die Aufbereitung von Information betrifft, und eine radikale Worthörerin sei, könne man wohl kaum in »fünf Minuten politischer Berichterstattung, fünf Minuten Werbung und fünf Minuten Nachrichten pro Stunde«, wie es das Konzept von NRJ vorsieht, das Ziel eines Radios sehen, das als »anderes« einmal angetreten war.

Über der Frage der ökonomischen Überlebenschance eines Radiokonzepts findet, so Emenlauer, eine Diskussion darüber, was man medienpolitisch will, gar nicht mehr statt: »Was mich in dieser Position bestärkt, ist, daß die Mitarbeiter das — nämlich eine an einer inhaltlichen Kontinuität interessierte Neuorientierung — wollen. Alle, die ich kenne, haben ein solches politisches Interesse. Egal, wie sie sich fetzen, da muß man doch jede Möglichkeit zur Unterstützung ergreifen.«

Bleibt die Frage nach dem Bedürfnis und dem Interesse der breiten Öffentlichkeit an einem Informationsprogramm, wie es Radio 100 zwischen Öffentlich-Rechtlichem und dem sich immer mehr ausweitenden privaten Medienmarkt bietet. Rot- Grün hatte sich in seinen Koalitionsvereinbarungen noch darauf geeinigt, daß die Programme der privaten Anbieter gewissen »Mindestanforderungen« an Information und Bildung entsprechen müßten, daß Minderheiten angemessen zu Wort kommen müßten« und »nichtkommerzielle freie Radios« vorrangig zugelassen würden. In den neuen Koaltionsvereinbarungen heißt es jetzt, die Ansiedlung »leistungsfähiger kommerzieller Anstalten« werde angestrebt. Joachim Günther, medienpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, sieht darin keine Veränderung der SPD-Position, zumal auch in den schwarz-roten Vereinbarungen »Kabelkanäle für besondere Programmaufträge, zum Beispiel Sendungen für hier lebende Minderheiten« in Aussicht gestellt würden. Wie sich dies, was leicht zur Rechtfertigung für die Ausgrenzung der Minderheiten im privaten oder öffentlich-rechtlichen Radio dienen könnte, finanzieren soll, weiß auch der Kabelrat noch nicht. Obwohl damit gleichsam »etwas übrig geblieben ist, von dem was wir gewollt haben«, lehnt die in die Opposition entlassene AL diese Radioidee ab. »Unser Ansatz war immer ein Integrationsradio, kein Separieren in die Ecke«, meint Alice Ströver. »Dazu gehört genauso, daß Kultur auf alle Kanäle muß — nicht nur auf die Klassikfrequenz.«

Zur Idee der Förderung nichtkommerzieller, das heißt nicht ausschließlich werbefinanzierter, Radios gehörte nach der AL-Vorstellung auch die Diskussion über eine teilweise Anbindung an eine Unterstützung durch öffentliche Anstalten. Joachim Günther hält die Fortführung dieser Diskussion aus verfassungsrechtlichen Gründen für ausgeschlossen. Alles andere würde das duale System »auf den Kopf stellen«. Was die Privaten betrifft, gehe man »pragmatisch ran«. Das heißt »wie kriegt man Veranstalter, die ein Programm machen, was solide läuft«. Trotzdem sei die SPD interessiert an »innerer und äußerer Pluralität«, also an einem Programm für verschiedene Hörergruppen. Nicht zuletzt über diese Frage, nämlich daß kein Anbieter mehr als ein Programm machen dürfe, müsse man sich mit der CDU noch streiten.

Dies war bereits in der vergangenen Legislaturperiode einer der vielen Punkte, an dem die Verabschiedung eines überfälligen Landesmediengesetzes scheiterte. Dadurch sei jetzt, da sich Rundfunkbeauftragter und die Gesellschaft für Kabelkommunikation um die Entscheidungsbefugnisse streiten, eine »gesetzliche Lücke entstanden«, meint AL-Ströver. Die Frequenzvergabe erfolge derzeit ohne politische Rahmenbedingungen, durch die die Privaten in die Pflicht genommen werden könnten — ausgerechnet zu einer Zeit der völligen Neuordnung er ostdeutschen Frequenzen.

Vor diesem Hintergrund, so glaubt Ströver, könnte ein »Integrationsfunk«, der verstärkt auf HörerInnenbedürfnisse setzt, an Bedeutung gewinnen. Dauerhafte Abonnenten-, Spenden- und Mitgliedsbeitragsfinanzierung könnte zusätzlich zu den Werbeeinnahmen das Überleben des Senders garantieren. In einem stark lokal orientierten Programm sieht auch Margit Miosga die einzige Überlebenschance, hält eine Hörerinnenfinanzierung aber nur vorübergehend für möglich. »Anspracheorientierte Programme« wie zum Beispiel die Expertenrunde im SFB verdankten ihren Erfolg offenbar einem breiten Bedürfnis von Leuten, »die überhaupt nicht den Zugang haben zu einem Netz an Informationen, wie es Mittelständische haben. Für ein Gros der Bevölkerung ist offenbar vieles, wie sich Macht manifestiert, wie Behörden funktionieren, ein Mysterium. Wenn man wirklich in Treptow oder in Weißensee Leute hätte, die die ganzen kleinen Beschisse aufdeckten, dann hätte das eine Mächtigkeit, eine politische Brisanz. Denn das leistet niemand.«

Daß sich ein gutes Programm gleichzeitig gut verkauft, ist nicht gesagt. Doch mit einer Kapitalkonstruktion, die Radio 100 in die Lage versetzte, sich zu professionalisieren, ohne das bisher gewonnene Profil völlig aufzugeben, könnten sowohl neue Werbestrategien als auch alternative Finanzierungen diskutiert werden. Das wäre, so findet Alice Ströver, eine neue Chance für das Radio, dahin zu kommen, »daß man es als publizistisches Projekt für die Stadt will«.