Bringt die deutsche Einheit Berlins Metallindustrie zu Fall?

Im Ostteil der Stadt droht ab 1. Juli 1991 Massenarbeitslosigkeit/ In West-Berlin verlassen die ersten Metall-Betriebe das einstige Steuerparadies  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Die ArbeitnehmerInnen der Metall- und Elektroindustrie in Ost-Berlin zittern um ihre Arbeitsplätze. Am 30. Juni dieses Jahres läuft der Tarifvertrag aus, der den derzeit noch 118.000 Beschäftigten einen befristeten Kündigungsschutz gewährt. In den Betrieben laufen die Kündigungsvorbereitungen auf Hochtouren, die Betriebsräte verhandeln über Sozialpläne.

Nach einer Untersuchung der Berliner IG Metall mit dem etwas sperrigen Titel Droht der Zusammenbruch des Industriestandortes Berlin nach Herstellung der deutschen Einheit? wird jede/r dritte ArbeitnehmerIn dieser Industriebranche nach Auslaufen des Kündigungsschutzes auf der Straße stehen. Zu den derzeit über 70.000 Ostberliner Arbeitslosen werden weitere 47.000 MetallerInnen hinzukommen.

Die bedrohlichen Zahlen sind keine Schätzwerte, sondern basieren auf Angaben der Geschäftsleitungen von 26 Großbetrieben gegenüber BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen. Von den noch im Februar in diesen Betrieben arbeitenden 60.500 Menschen sollen 46 Prozent, exakt 27.635, entlassen werden. Spitzenreiter in dieser Statistik ist das Werk für Fernsehelektronik im Bezirk Köpenick. Die einstige Renomierfirma wies bei der D-Mark-Eröffnungsbilanz 1990 noch 8.400 Beschäftigte aus. Im Februar arbeiteten von den zur Zeit noch rund 7.200 Beschäftigten knapp 90 Prozent kurz. Ab dem 30. Juni sollen nur noch 2.300 Menschen auf den Lohn- und Gehaltslisten stehen. Dennoch ist fraglich, ob der einstmals größte Berliner Betrieb überleben wird.

Nicht alle Betriebe müssen derartig brutale Massenkündigungen aussprechen, doch Schlimmes bahnt sich in der gesamten Metallbranche an. Die Ostberliner Elektroindustrie sei, abgesehen von der Mikroelektronik, „im Kern durchaus weltmarktfähig“, sagt der Geschäftsführer des Verbandes der Berliner Elektroindustrie, Henning Brekenfeld, „aber sie verfügt nicht über die Märkte“. Auf der einen Seite sei der gesamte osteuropäische Markt wegen der Devisenknappheit der sozialistischen Länder zusammengebrochen und andererseits hätte es an Zeit und Geld gefehlt, sich neue Märkte im Westen zu erobern. Aber selbst wenn die Auftragslage günstig sei, sagt Brekenfeld, sind die Produktionskosten trotz der relativ niedrigen Löhne zu hoch. Es muß kräftig rationalisiert werden. Eine Einschätzung, die Betriebsräte und Gewerkschaften generell teilen, bloß nicht auf Kosten der gesamten Arbeitnehmerschaft, sagen sie.

Das Rezept der IG Metall liegt seit Monaten auf dem Tisch. Berlin biete alle Chancen für eine progressive Industriepolitik, die sich auf drei Punkte konzentrieren müsse, so der Bezirksleiter Manfred Foede. Erstens auf die Entwicklung und Fertigung zukunftsträchtiger Produkte und Produktionsverfahren, beispielsweise im Umweltschutz, zweitens auf die Qualifikation der Beschäftigten. Und drittens brauche Berlin die finanzielle Unterstützung des Staates. Nicht der Abbau der Berlinförderung, sondern ein Umbau der staatlichen Fördermittel müßte auf der Tagesordnung stehen. All diese Initativen müßten an einem Runden Tisch, das heißt von den Tarifpartnern und den KommunalpolitikerInnen gebündelt und durchgesetzt werden.

Auch an die Treuhand appelliert die Gewerkschaft seit langem. Die Koste-was-es-wolle-Privatisierungspolitik müsse als Sofortmaßnahe zur Sicherung von Arbeitsplätzen gestoppt, die Betriebe statt dessen auf Kosten des Staates sinnvoll saniert werden.

Mit der Forderung nach einem Runden Tisch und dem Protest gegen den Abbau der Berlinförderung kann sich die Gewerkschaft mit der neuen Berliner Koalitionsregierung einig wissen. Laut und noch einiger ist der Protest gegen den Bonner Beschluß, Berlin ab kommendem Sommer vom Subventionstropf abzuhängen. Die Sprecher aller fünf im Gesamtberliner Parlament vertretenen Fraktionen, sind davon überzeugt, daß der Beginn der Streichungen, zeitgleich mit dem Ablaufen des Kündigungsschutzes in der Metallindustrie am 1. Juli eine Katastrophe für die Stadt sei.

Die Industrie- und Handelskammer (IHK) hat Mitte Januar Bundeskanzler Kohl geradezu beschworen, die Berlinförderung nicht zu rasch abzubauen. Eine Befragung in der Westberliner Industrie habe ergeben, daß bei einem aprupten Wegfall der Umsatzsteuerpräferenzen 218 Unternehmen, die fast 80.000 ArbeitnehmerInnen beschäftigen, in die Verlustzone geraten würden. 30.000 Arbeitsplätze, namentlich in der Elektrotechnik und im Maschinenbau wären als besonders gefährdet einzustufen. Der Präsident der IHK, Horst Kramp argumentiert, daß es nicht darum gehe, dem westlichen Teil der Stadt Privilegien zu erhalten, sondern dem östlichen Teil der Stadt und dem Umland der Berlinförderung vergleichbare „Fördertatbestände“ zu übertragen. Berlin dürfe nicht aus der Wirtschaftsförderung für die neuen Bundesländer ausgrenzt werden.

Wie dramatisch sich der Abbau von Arbeitsplätzen nicht nur im Ostteil der Stadt, sondern auch in West- Berlin vollziehen wird, hat das Beispiel Standard Elektrik Lorenz (SEL) gezeigt, die sowohl den Produktionsstandort West-Berlin aufgeben als auch die fünf Gemeinschaftsunternehmen RFT/SEL in Ost-Berlin schließen wird. In Westteil werden 1.800, im Ostteil 900 ArbeitnehmerInnen sich eine neue Arbeit suchen müssen. Fast ein Drittel der Gesamtbelegschaft sind an- oder ungelernte Frauen und ImmigrantInnen.

Offiziell begründet das von der französischen Firma Alcatel beherrschte Unternehmen den Rückzug aus Berlin mit „Umstrukturierung durch einen flexiblen Fertigungsverbund“. Unter der Hand bringt man die Neuorganisation der Firma aber durchaus mit dem Abbau der Berlinförderung in Zusammenhang. Die in Berlin gesparten Steuern betrugen regelmäßig mehr als das Doppelte der Jahresüberschüsse.

Die IG Metall hat in ihrer Untersuchung über die Berliner Metall- und Elektroindustrie 93 Unternehmen über Zukunftspläne im Zusammenhang mit dem Abbau der Berlinförderung befragt. Mit negativen Auswirkungen rechnen 35 Betriebe, in denen 28.171 Beschäftigte tätig sind. Vier Betriebe, einschließlich der SEL, werden ihre Produktionsstätten vollständig stillegen oder verlagern und 18 Betriebe einen Teil ihrer Produktion aus Berlin abziehen. Die Kündigungswelle im Ostteil der Stadt und die drohende Arbeitsplatzvernichtung im Westteil könnten, so sagt Gewerkschaftschef Foede, Berlin einen „heißen Sommer“ bescheren.