„Im Krieg herrscht ein neues Gesetz“

Die Palästinenser in den besetzten Gebieten leben seit Kriegsbeginn unter Ausgangssperre  ■ Aus der Westbank Anne Meyer

Selten wurde in einem Krieg soviel vertuscht, beschönigt, zurechtgebogen oder kaltschnäuzig gelogen — einträchtig auf allen Seiten. Doch einige alte Konfliktlinien treten jetzt in aller Häßlichkeit hervor. Seit dem 17. Januar bekommen die rund 1,7 Millionen Palästinenser in der Westbank und im Gaza-Streifen rund um die Uhr zu spüren, daß sie unter Besatzung leben. Seither stehen sie unter Ausgangssperre, die erst seit einigen Tagen in manchen Gebieten stundenweise aufgehoben wird. Da Israel wegen der Masseneinwanderung aus der Sowjetunion unter enormem Druck steht, Wohnraum zu schaffen, dürfen Arbeiter aus dem Gaza-Streifen seit Sonntag wieder auf die Baustellen — dank der Bemühungen von Wohnungsbauminister Arik Scharon, der sicher kein Freund der Palästinenser ist.

Die israelische Armee verzichtet seit Kriegsbeginn auf den bis dahin geltenden offiziellen Euphemismus „Verwaltung der Gebiete“. Am vergangenen Wochenende wurde in einem Dorf in der Westbank ein Molotowcocktail gegen einen Armeejeep geworfen. Niemand kam zu Schaden. Das Dorf aber wurde „zur Verantwortung“ gezogen. Kurz nach acht Uhr abends wurden alle männlichen Bewohner zwischen 16 und 55 durch Lautsprecherwagen der Armee zum Rathaus bestellt. Über 500 Jugendliche und Männer kamen zusammen.

Ihre Personalausweise wurden konfisziert und erst am nächsten Tag wieder zurückgegeben. Alle mußten eine Strafpredigt über sich ergehen lassen: Jetzt sei Krieg, und im Krieg herrsche ein neues Gesetz. Die Armee sei eine Besatzungsarmee, sie sei zu allem berechtigt, ja, sie bestimme, was recht sei. Man wisse, daß einer der Anwesenden den Molotowcocktail geworfen habe. Sie alle müßten jetzt dafür bezahlen. Über das Dorf wurde eine totale Ausgangssperre von vier Tagen verhängt — zu der Zeit, als gerade die ersten Erleichterungen gewährt wurden.

Die Ausgangssperre bedeutet konkret, daß Hunderttausende von Menschen — übrigens ohne jeden Schutz gegen eventuelle Angriffe — in ihren Wohnungen eingesperrt sind. Zehntausende können nicht mehr arbeiten gehen. Mittlerweile fehlt vielen das Geld, um während der stundenweisen Aufhebung der Ausgangssperre auch nur das Nötigste einzukaufen.

In den engen überfüllten Flüchtlingslagern ist die Ausgangssperre am schwersten zu ertragen. Und es herrscht jetzt wirklich Not an Lebensmitteln. Die kargen Mehlrationen der UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for the Palestinians) reichen nicht aus. Hart trifft es aber auch die ärmeren Schichten in den palästinensischen Städten, die weder von der UNRWA versorgt werden noch, wie die meisten Dorfbewohner, etwas Landwirtschaft haben.

Jetzt, da die Ausgangssperre täglich für einige Stunden aufgehoben wird, kann man sich wenigstens wieder besuchen, nachdem man die wichtigsten Einkäufe erledig hat. Man tauscht die neuesten Witze aus. Neuerdings kursiert ein „Chalaile“- Witz (Witz über die Bewohner von Hebron, die „Ostfriesen“ der Palästinenser): „Ein Chalaile besucht Saddam Hussein. Der verabschiedet ihn schließlich mit den folgenden Worten: ,Wenn du wieder in Hebron bist, ruf mich an und erzähl mir, wie meine Scud in Israel ankommt. Ich will nämlich eine Rakete im Wert von einer Million Dollar nach Tel Aviv schicken.‘ Dem Chalaile bleibt vor Schreck der Mund offen stehen. ,Aber, aber‘, stammelt er, ,das ist doch schade drum, schick sie lieber zu uns nach Hebron.‘“

Nach über drei Jahren Intifada und fast 24 Jahren Besatzung ist jetzt mehr denn je die Verzweiflung zu spüren. Neben dem Galgenhumor bringt diese Stimmung bei vielen Palästinensern auch die Unterstützung von Saddam Hussein hervor. Nach den vergeblichen diplomatischen Offensiven der PLO in den siebziger und achtziger Jahren, der Kampagne des zivilen Ungehorsams gegen die Besatzung und nach der Anerkennung Israels durch die PLO sehen die meisten Leute nun keine Perspektive mehr: Wie man in den fünfziger Jahren vom ägyptischen Präsidenten Nasser die Befreiung erhoffte, so warten jetzt alle auf das Wunder aus Bagdad. Jede Scud-Rakete, die in Tel Aviv Zerstörung anrichtet, wird mit Schadenfreude quittiert. Die Stimmen der politischen Führung, die nach wie vor für eine friedliche Perspektive und für politische Vernunft plädieren, bringt die israelische Besatzungsmacht zum Schweigen.

Der Vorsitzende des arabischen Journalistenverbandes in Ost-Jerusalem, Radwan Abu Ayash, und der Jurist Ziyad Abu Zayad sind schon seit Wochen in Haft. Jetzt hat man auch Sari Nusaibeh, Philosophieprofessor an der Bir-Zet-Universität, unter Administrativhaft gestellt, den wohl unorthodoxesten Kopf unter den politischen Sprechern der Palästinenser.

Ein Student aus Bethlehem versucht, alles auf einem Punkt zu bringen: „Zur Zeit sprechen die Waffen. Nur wer stark ist, bestimmt, was recht ist. Und wie schon so oft in diesem Jahrhundert werden wir Palästinenser wohl wieder einmal die Verlierer sein.“