Haitis Rachefeldzug gegen Bischof und Kurie

Nach dem Wahlsieg des Befreiungstheologen Aristides ist in Haiti die Zeit der Abrechnungen angebrochen/ Slumbewohner machen Kathedrale von Port-au-Prince dem Erdboden gleich und vertreiben den Erzbischof in die Dominikanische Republik  ■ Von Hans-Christoph Buch

Port-au-Prince (taz) — Wahrzeichen der jungen Demokratie Haitis, das auf Hauswänden und Mauern, Lastwagen und Bussen, Mützen und T-Shirts wiederkehrt, ist ein roter Hahn, der ein schwarzes Huhn in seinen Klauen hält — eine Symbolik, die hier, in der Heimat des Hahnenkampfs, jedem unmittelbar verständlich ist: der krähende Hahn symbolisiert den Sieg des linken Befreiungstheologen Père Aristide über die Killertruppen von Papa und Baby Doc, die ein Perlhuhn im Wappen führten. Zwar scheint die Rückkehr der Tontons Macoutes heute ausgeschlossen, nachdem der Ex-Innenminister Roger Lafontant sich durch einen gescheiterten Putsch ins Gefängnis und seine Anhänger ins politische Abseits manövriert hat, aber die Mordkommandos operieren weiter im Untergrund und verbreiten Angst und Schrecken durch Attentate und Überfälle.

Wo immer die Bevölkerung der verhaßten Tontons Macoutes habhaft wird, werden sie auf der Stelle gelyncht, mit Benzin übergossen und angezündet. „Déchoucage“ — von kreolisch déchouquer, mit der Wurzel ausreißen — heißt dieser spontane Rachefeldzug gegen die Nutznießer der Babydocratie, bei dem kein Stein auf dem anderen bleibt und dem immer wieder auch Unbeteiligte zum Opfer fallen. Jüngstes Ziel des Volkszorns war der Erzbischof von Port-au-Prince, Monsignore Wolf Ligondé, der Baby Doc mit seiner korrupten Gattin getraut hatte und in einer Predigt zum Jahreswechsel aus seiner Sympathie für dessen Regime und aus seiner Abneigung gegen den von der Kirche amtsenthobenen Pater Aristide kein Hehl machte. Die alte Kathedrale von Port-au-Prince wurde dem Erdboden gleichgemacht, und der Erzbischof floh vor den mit Stöcken und Macheten bewaffneten Demonstranten in die benachbarte Dominikanische Republik. Auf der Suche nach seinem Versteck plünderte die Menge das Haus und den Amtssitz des päpstlichen Nuntius in Haiti, der von der Armee in Sicherheit gebracht werden mußte; sein Sekretär, ein junger Priester aus Zaire, wurde so schwer mißhandelt, daß er ein Auge verlor.

Zwar hat sich die Regierung beim Vatikan in aller Form entschuldigt, aber die ohnehin gespannten Beziehungen zwischen der Kurie in Rom und den Anhängern der Befreiungstheologie in Haiti und Lateinamerika wurden durch diesen Vorfall noch mehr belastet. Wenn sich die versprengten Tontons Macoutes, wie früher die Nationalgarde Somozas, im Untergrund zu Contras formieren, könnte der sich als Märtyrer gebärdende Erzbischof von Port-au- Prince dereinst eine ähnliche Rolle spielen wie Obando y Bravo in Managua. Haiti ist nicht Nicaragua, aber die US-Strategen waren über den Erdrutschsieg des linken Befreiungstheologen Aristide genauso überrascht wie einst über den Sieg der Sandinisten.

Das gilt auch für europäische Beobachter, die die Massenbasis und organisatorische Effizienz von Aristides Graswurzelbewegung FNCD (Front National pour le Changement et la Démocratie) unterschätzt oder gar nicht erst wahrgenommen haben. Die Slums der Hauptstadt und die entlegenen Dörfer im Landesinnern sind für die meisten Haiti-Watchers und ausländischen Experten eine terra incognita: ein Sektor, der von der privilegierten Elite Haitis als „quantité négligeable“ behandelt wird und in der Politik bisher nicht vorkam. Dabei lebt hier die Mehrheit der Bevölkerung, und die Ignoranz ist umso überraschender, weil schon der Sturz des Duvalier-Regimes von den Ärmsten der Armen ausging. Dabei waren die Gemeinden der Basiskirche als Versammlungsorte und Freiräume ebenso wichtig wie die christlichen Rundfunksender Radio Lumière und Radio Soleil, die unzensierte Nachrichten in der kreolischen Landessprache sendeten; selbst in den entlegensten Dörfern gibt es heute Transistorradios, und in den Slums kommunales Fernsehen.

Père Arsitides Wahlsieg ist eine Spätfolge des Papstbesuchs vom März 1983, bei dem Johannes PaulII. mit den Worten „Fok' ca changé!“ („Hier muß sich etwas ändern!“) den Befreiungstheologen grünes Licht gab, die das ganze Land mit einem Netzwerk von basiskirchlichen Institutionen überzogen. Ihr Erfolg war umso größer, weil der Voodoo-Kult durch seine Verquickung mit dem Duvalier-Regime gründlich diskreditiert ist. Inzwischen hat sich die kirchliche Hierarchie, die jede weltliche Definition des Glaubens ablehnt, vom politischen Engagement der Befreiungstheologen distanziert. Der Bruch scheint irreparabel, nachdem die Leitung des Salesianer-Ordens Père Aristide und seine Anhänger praktisch exkommuniziert hat — und das zu einem Zeitpunkt, wo die christliche Soziallehre durch die weltweite Krise des Marxismus gerade in der Dritten Welt neue Aktualität gewinnt.