Rettung der sinkenden Schiffe

Urabstimmung wird über Verschmelzung der Bürgerbewegungen in Brandenburg zum Bündnis 90 entscheiden/ Die Vorstellungen von einem Bündnis reichen vom Netzwerk bis zur politischen Vereinigung  ■ Von Irina Grabowski

Potsdam (taz) — Vertreter der Bürgerbewegungen im Land Brandenburg haben am Sonnabend auf einem Treffen in Potsdam „die Verschmelzung ihrer Organisationen zum Bündnis 90 (Landesverband Brandenburg)“ beschlossen. Der Beschluß gilt als bestätigt, wenn ihm in der Urabstimmung die Mitglieder von Demokratie Jetzt, Neuem Forum und der Initiative für Frieden und Menschenrechte mit Zweidrittel-Mehrheit zustimmen.

Vertreter vom Neuen Forum in Fürstenwalde, Bad Liebenwerda, Frankfurt/Oder und Eberswalde wollten da nicht mitgehen. Nachdem in einer Trendabstimmung 56 Anwesende für und 20 gegen die Gründung eines Bündnisses stimmten, verließen letztere die Veranstaltung vorzeitig. Der Vorwurf, die Bürgerbewegungen und der Name Bündnis 90 würden für die Gründung einer „heimlichen Partei“ mißbraucht, blieb in Gestalt von Bärbel Bohley im Raum zurück.

Gleich zu Beginn des Treffens, bevor überhaupt geklärt werden konnte, warum ein Zusammengehen der Bürgerbewegungen notwendig sein könnte, erklärte Thomas Schulz vom Neuen Forum/Bad Liebenwerda, daß an der Basis „kein dringender Handlungsbedarf“ für die Schaffung einer neuen politischen Struktur bestehe. Von den juristischen und finanziellen Schwierigkeiten mal abgesehen, sehe er keinen Grund, warum Brandenburg den Vorreiter markieren solle. Bemüht wurde wieder mal das fossile Argument, man wolle Neues Forum bleiben und würde nur die Mitglieder mit einer Namensänderung verprellen.

Bündnis ja oder nein und warum — diese Diskussion kam dennoch zustande. Inge Cherwinske (DJ) votierte dafür: An der Basis funktioniere die Zusammenarbeit der Bürgerbewegung längst und habe, auch wenn Reibereien nicht ausbleiben, mehr Kräfte und Handlungsspielraum gebracht. „Einzeln sind wir politischer Sondermüll der Klasse reizarmes Sektierertum“, polemisierte Christoph Hensel aus Senftenberg. Kompakt, arbeitsfähig und brauchbar müsse ein solches Bündnis sein. „Wir wollen nicht nur gegen etwas sein, sondern das neue Deutschland gestalten“, schmetterte Fraktionsführer Günter Nooke in die Debatte. Er wolle keine „Programmpartei“, sondern ein „Problembündnis“, das „an den Sachthemen orientiert Politik macht, die quer zum etablierten Parteienspektrum liegt“. Wer da nicht mitzieht, meinte Nooke, sei politisch nicht handlungsfähig und „erstickt in seiner kleinlichen Provinzialität“ — und nahm sich keine Zeit für Empfindlichkeiten.

„Wer keine Partei im Rücken hat, der macht sich eine“, ging auch der schon zitierte Thomas Schulz (NF) in die Offensive. Auch die Regierungsbeteiligung in Brandenburg solle nicht den Irrglauben an die politische Macht von Bürgerbewegungen nähren. „Wir sind eine Nischenbewegung und damit müssen wir leben.“ Andere Forumvertreter folgten dieser Sicht nicht. Immer mehr Menschen, die angesicht der sozialen Probleme von der Politik der großen Parteien enttäuscht sind, würden zum Neuen Forum mit der Forderung kommen, endlich wieder einzugreifen. „Ich fühle mich wieder ganz zu Hause“, kommentierte Harald Gräber vom Neuen Forum in Nauen mit bitterem Lächeln das „typische Gerede um den heißen Brei“. „Wir brauchen ein Bündnis, wenn wir nicht untergehen und uns dabei gegenseitig aus den sinkenden Schiffchen zuwinken wollen.“ Forumaktive aus Eberswalde meinten, daß, bevor man darüber abstimmt, ob die Bürgerbewegungen zusammengehen, geklärt werden müßte, welchen Charakter dieses Bündnis haben solle. Gegen diese Bedenken wurde die bereits erwähnte Trendabstimmung durchgesetzt. Die Vorstellungen von einem Bündnis reichen von einem „Netzwerk sozialer Interessen und autonomer Vereine“, einem Dachverband bis zur „politischen Vereinigung“, die auch parlamentarische Verantwortung übernehmen müsse. Eine Verständigung über Modelle fand in Potsdam nicht statt. Vielleicht gibt es überhaupt keine Chance dafür. Ein Kompromiß zwischen Parteistruktur und Vereinzelung der Basis der Bürgerbewegungen, wie Pavel Strohner vom Zentralen Arbeitsausschuß des Neuen Forums in Berlin ihn ansprach, ist ein diskutierfähiges theoretisches Modell. Doch bis sich herausgestellt hat, ob es lebensfähig sein könnte, sind das Neue Forum und Demokratie Jetzt möglicherweise schon von der Übermacht wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Probleme überrollt, die Wählerschaft und Sympathisanten vergrault.