Starren auf die Exekutive

■ Die Probleme der Einheit wurden unterschätzt — die politische Diskussion fehlt KOMMENTARE

Das Leipziger Arbeitsamt residiert in der ehemaligen Stasizentrale der Stadt. Die Geiseln des Staatssozialismus — umfassende, bösartige Überwachung und Staatsvormundschaft — sind verjagt, gekommen sind die Geiseln der Marktwirtschaft — Massenarbeitslosigkeit, Unsicherheit, sozialer Abstieg. Bis zu einem gewissen Grad blieb jenes Amtsgebäude das, was es schon seit Jahrzehnten war: Eine Stätte der Erniedrigung, der erzwungenen Anpassung; ein Ort auch, an dem Menschen in Depression und Verzweiflung getrieben werden.

Wie den neuen Bundesbürgern geholfen werden kann, wie sie ihren Mut und Optimismus wiedergewinnen sollen, weiß in Bonn derzeit niemand. Die Steuern müssen erhöht werden — für Oskar Lafontaine späte aber völlig belanglose Genugtuung. Dem Arbeitsminister Blüm fällt nichts weiter ein, als in die sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Mottenkiste der Beschäftigungsprogramme zu greifen. „Unser Reden seit der Währungsunion...“, wiehert die Opposition. Ihr Sozialexperte Dreßler findet markige Worte über angeblich horrende Renten für etliche alte SED-Funktionäre. Mit der Flucht auf einen Nebenschauplatz wird die eigene Ratlosigkeit populistisch überdeckt.

Was fehlt, sind Ideen, die gesellschaftlichen Handlungsspielraum eröffnen. Ideen, die verhindern, daß die Depression auf der einen Seite und mitleidige Gleichgüligkeit auf der anderen Seite wachsen, und die Probleme der Wiedervereinigung zur blöden Wochenendbeschäftigung von Berufspolitikern verkommen. Otto Graf Lambsdorff liegt durchaus richtig, wenn er statt Steuerhöhung den realen Ausgabenverzicht in den alten Ländern fordert. In dieser Forderung liegt immerhin die Chance einer öffentlichen Diskussion und damit die Chance für eine Politik, die nicht allein auf die Exekutive starrt. Die ÖTV, die nun in den Tarifclinch geht, könnte, wenn sie nicht so wäre wie sie ist, den Anfang machen: Statt einheitlicher Gehaltserhöhungen müßten zwei Prozent im Westen und zehn Prozent im Osten gefordert werden...

Bei allem hat dieses offenkundige Scheitern der Deutschen und ihrer Staatskunst etwas Sympathisches. Die BRDler waren die Musterknaben des Westen, die DDRler dito, nur eben im Osten. Rümpften die einen über die fehlende soziale Sicherung und Vollbeschäftigung in England die Nase, blickten die anderen verachtend auf die „polnische Wirtschaft“ gleich nebenan. Die Deutschen sind dabei, ihren Dünkel — ihr berühmtes Wesen — selbst zu ruinieren. Ihre berüchtigte Tat- und Organisationskraft scheint gebrochen. Gott sei Dank. In 20 Jahren werden amerikanische Psychohistoriker beschreiben, wie schlecht, kleinlich und ekelhaft die Deutschen mit ihrer Wiedervereinigung zu Rande kamen. Verglichen werden sie dann mit Koreanern, die, wenn auch etwas später, ganz ähnliche Probleme klüger und menschlicher, vor allem aber sehr viel wirtschaftlicher und weniger destruktiv zu überwinden wußten. Götz Aly