»Es hilft — ob es was ändert oder nicht«

■ Im Ostberliner Haus der jungen Talente spielen Obdachlose gemeinsam Theater/ Regisseur und professionelle Schauspieler am Theaterprojekt beteiligt

Berlin. Klaus S. verbringt bereits sein zehntes Jahr »auf Platte«. Das einzige Heim, das ihn mit schöner Regelmäßigkeit beherbergte, war der Knast: »Wenn man alles zusammenrechnet, komme ich bestimmt auf sechs Jahre.« Ob wegen Scheckbetrug, Diebstahl oder Schwarzfahren — immer wieder landete der 43jährige Mann hinter Gittern. Heute zieht Klaus von Obdachlosenheim zu Obdachlosenheim, von Wärmestube zu Wärmestube. Im Charlottenburger Seeling-Treff lernte er Bernhard Wind kennen, einen jugoslawischen Theaterregisseur, erfahren in der Theaterarbeit mit Sinti und Roma und der Mann, den Sozialstadtrat Röpke engagiert hatte, um ein Berliner Obdachlosentheater-Projekt ins Leben zu rufen.

»Ich hätte gern mal eine Frage«, sagt der sichtlich angetrunkene Mann zu dem genervten Sozialarbeiter, »kann man hier auch als ostsoziale Sau übernachten?« Angeekelt wendet sich der Beamte ab, lustlos spielt er mit seinem Apfelgriebsch, während der abgerissen aussehende Mann um ein Bett für die Nacht bittet. Eine Szene aus der Theaterprobe. Nichts ist hier gestellt, kein Dialog abgesprochen. Und doch wiederholen sich immer die gleichen Sätze, weil sie immer von den gleichen Sorgen und Ängsten sprechen. »Riecht das nicht nach Alkohol?« fragt der Sozialarbeiter mißtrauisch. Antwort: »Nee, das riecht nach jemandem, der keine Zahnbürste hat!« Und immer wieder die Frage nach dem Ausweis und die Antwort: »Ham se mir geklaut.« Heiner L., gebürtiger Ostberliner, hat, wie viele seiner Mitspieler, tatsächlich seit Wochen keinen Ausweis mehr. Früher hat er bei einem Fleischer gearbeitet, doch der hat kürzlich Pleite gemacht. Jetzt lebt er von Sozialhilfe. Bis März hat er noch eine Bleibe, was dann wird, weiß er noch nicht.

Irgendwie wird es schon gehen — eine Haltung, die sich fast alle der knapp zwanzig Obdachlosen zu eigen gemacht haben, die jeden Nachmittag zur Theaterprobe im Haus der jungen Talente erscheinen. Sie kommen, weil das Schauspiel, aber auch die Gruppe, eine willkommene Abwechslung zum täglichen Einerlei bietet, einen Lichtblick im grauen Alltag zwischen Wärmestube und S-Bahn-Bank. Eitel Sonnenschein herrscht zwischen ihnen und den vier mitwirkenden professionellen Schauspielern nicht immer, zwischen den Heimatlosen und denen, die am Abend nach Hause zurückkehren. »Ich kann es nicht aushalten, wenn ihr von eurem Zuhause oder euren Liebsten redet«, bricht es aus Günther heraus, »ich hab schon seit Jahren nicht mehr gepimpert, welche Frau geht mit mir schon mit?« Und schon ist der Konflikt da, ans Spielen denkt niemand mehr. Über solche Aggressionen, über die dahintersteckenden Nöte, Ängste und Erfahrungen muß gesprochen werden. Da fällt dann auch schon mal eine Probe aus, kettenrauchend sitzt man zusammen und redet sich die Köpfe heiß — auch wenn es meist keine Lösung gibt. Die für das Projekt engagierte Sozialarbeiterin Tamara Z. hat dann alle Hände voll zu tun, um die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. Sie hat bereits Erfahrung mit obdachlosen Jugendlichen gemacht, Theaterarbeit ist ihr Hobby. »Es war immer mein Traum, beides miteinander zu verbinden«, sagt sie. Für problematisch hält Tamara, daß so wenig obdachlose Frauen in dem Projekt mitmachen, »weil es so wenig davon gibt. Die haben immer schnell wieder einen Macker, der sie durchschleppt, oder sie prostituieren sich für eine Wohnung.«

Die fehlenden Frauen werden durch Schauspielerinnen ersetzt. Durch Friederike zum Beispiel, die in dem Stück eine taubstumme Obdachlose spielt. Spielerisch schnell erlernen ihre Mitstreiter auf dem Parkett, der vermeintlich Taubstummen die rüden Antworten des Sozialarbeiters durch Gesten zu vermitteln, souverän bewegt sich Heinz in der Zeichensprache, wenn Friederike ihn im Gefängnis besucht. Mit aller Macht klammert sie sich an ihn, als die Besuchszeit vorbei ist, rüde werden sie von den beiden Gefängniswärtern getrennt, Friederike in die Psychiatrie und Heinz zurück in die Zelle gebracht. Spiel und Realität, Fantasie und Erfahrung verschwimmen zu einer Einheit. »Die Leute spielen das, was sie fühlen«, ist die Studentin der Theaterwissenschaft Birgit S. fasziniert. Da gehen dem Häftling Paul im Spiel auch schon mal die Pferde durch, wenn er von dem Gefängniswärter angemacht wird, und ein Stuhl fällt krachend um, eine Tasse klirrend zu Boden, wenn die beiden aufeinander losgehen. Wie im »richtigen« Leben zieht Paul auch diesmal den kürzeren und landet in der Arrestzelle, wo der Wärter schnaubt: »Du wirst die Regeln hier auch noch lernen!«

Daß die meisten der mitspielenden Obdachlosen aus Ost-Berlin stammen, erklärt Birgit sich damit, daß diese »einfach noch wacher« sind: »Die haben noch viel mehr Power, Westobdachlose dagegen lassen sich oft viel weniger motivieren.« Wärmestuben und Übernachtungsmöglichkeiten in Ost-Berlin sind rar, die hier lebenden Obdachlosen müssen flexibel sein und auf Westberliner Einrichtungen ausweichen.

Wenn die Probe vorbei ist und dampfender Kaffee, Brot und Wurst auf dem Tisch stehen, haben alle immer noch Zeit für einen kleinen Plausch. Klaus erzählt, daß er bislang noch keine Sozialhilfe beantragt hat: »Ich hab' das Gefühl, das brauchen andere dringender als ich.« Nein, er habe keine sonderlich gutherzige Seele, »aber ich brauche keine Stütze, an ein paar Mark hier oder da komme ich immer.« In seiner Stimme schwingt keine Bitterkeit — trotz allem. »Irgendwie geht es eben doch immer weiter« — und diesmal ist die Stütze das Theaterprojekt. »Wir alle hier haben soviel erlebt — das muß man einfach mal rausschreien, das hilft — ob es was ändert oder nicht.« Martina Habersetzer