Gruppenbild ohne Dame

Die britische Theaterszene nach der Schlacht  ■ Von Thomas Langhoff

In der Novemberausgabe des Londoner Stadtmagazins 'Time Out‘ stößt der Leser auf einen merkwürdigen Eintrag: „Theatre Dark“ kündigt der Veranstaltungskalender für die beiden Londoner Bühnen der Royal Shakespeare Company an. „Theatre Dark“ ist jedeoch keineswegs — wie einige Theaterfreunde hoffen mögen — der Titel eines gerade in verstaubten Schubladen entdeckten Shakespeare-Manuskripts, sondern der treffende 'Time Out‘- Kommentar zur Situation des britischen Theaters nach zehn Jahren Thatcherism. Die Erbhüter Shakespeares knipsen die Lichter im „Barbican“ und im „Pit“ aus und ziehen sich auf ihre Stammbühnen nach Stratford zurück.

Mit dem vorläufigen Abschied der Royal Shakespeare Company von den Westend-Brettern im Herbst letzten Jahres fand ein Jahrzehnt konservativer Kultur- und Finanzpolitik seinen spektakulären Höhepunkt. Die derzeitige britische Theaterlandschaft erinnert an eine King Lear- Bühne im vorletzten Akt: Auf dem blutgetränkten Schlachtfeld verlieren sich pittoresk ein paar Leichen, aus den dunklen Ecken dringt das Wimmern der Verstümmelten, und die Schwerverletzten warten auf den Vorhang.

Will man sich dieses Tableau des Theaterlebens gemäß der Methode „Malen nach Zahlen“ vergegenwärtigen, sei folgende Hilfestellung gegeben. Der South-Bank-Komplex (hierzu gehören die Queen Elizabeth Hall, die Hayward Gallery und die Festival Hall) ist mit einer Million Mark verschuldet, die Royal Shakespeare Company kommt auf neun Millionen Mark und das Royal Opera House steht mit 14 Millionen Mark in der Kreide. Das Liverpool Playhouse steht vor dem Bankrott. Viele regionale Theatergruppen können es sich nicht leisten, Shakespeare aufzuführen — es sei denn, sie entließen die Heerscharen und kürzten die Stücke auf eine Syberbergsche Monolog-Version.

Die Finanzkrise beschränkt sich aber nicht nur auf das Theater. Die Tate-Gallery sieht sich mit ihrem seit 1985 eingefrorenen Jahresbudget von 5,4 Millionen Mark außerstande, bedeutende Werke zu erstehen, und die British Library (vergleichbar mit der Berliner Staatsbibliothek) mußte im letzten Jahr mehrere tausend Bücher von ihrer Einkaufsliste streichen.

Verantwortlich für diese Misere zeichnen diverse Akteure. Unter Margaret Thatcher und ihrem Gefolge herrschte die Ansicht, daß Kultur etwas sei, das den Leuten gegen ihren Willen von zumeist selbstherrlichen Egomanen aufgezwungen werde. Diese Einstellung drückt sich in einem Kulturbudget aus, das sich im europäischen Vergleich geradezu lächerlich ausnimmt: Noch nicht einmal 30 Mark pro Kopf und Jahr gibt der Tory-Schatzmeister für alles, was unter dem Namen „Kultur“ firmiert, aus. Den Schweden ist ihre Kultur mit 85 Mark pro Kopf und Jahr fast das Dreifache wert, die Deutschen kommen auf über 70 Mark und die Franzosen zahlen 65 Mark. In einem Manifest für die Künste forderte die „National Campaign for the Arts“ Ende letzten Jahres die Regierung auf, ein Prozent ihres Jahresbudgets für die Kultur auszugeben. Dies hieße allerdings, den derzeitigen Zwei-Milliarden-Fonds auf das Dreifache aufzustocken.

Private Sponsoren und lokale Ratsherren haben zur Zeit selbst mit enormen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Das Royal Opera House mußte gerade 4,5 Millionen Mark an Sponsorengeldern streichen. „Wir sehen das als direkte Antwort auf die schlechte wirtschaftliche Lage“, so Euan Balfour, der Sprecher des Royal Opera House. Die Probenzeiten sind zusammengestrichen worden und auch die Gehaltsliste wird gekürzt — für das Frühjahr stehen 47 Entlassungen an.

Es ist aber nicht allein die Rezession, die den Buchhaltern wenig Spielraum für artistische Eskapaden zugesteht. „Die Moral in der Kunstwelt bewegt sich auf einem ziemlich niedrigen Niveau“, klagt Caroline Kay von der „Association for Business Sponsorship of the Arts“. „Die Vorstellung, daß Sponsorengelder die Zinsen für die Schulden decken und nicht für etwas ausgegeben werden, das ohne diese Gelder nicht möglich gewesen wäre, ist sehr entmutigend. Und außerdem ist es nicht die Aufgabe privater Finanziers, immer dann einzuspringen, wenn die öffentlichen Geldgeber versagen.“

Nach der Steuerreform im letzten Jahr sehen sich auch die Stadträte nicht mehr in der Lage, sich kulturell zu engagieren. Der Westminster City Council — nach der City of London der zweitreichste Bezirk Großbritanniens — kürzte seine Zuschüsse im letzten Jahr um 90 Prozent. Nur eine außerplanmäßige 7,5-Millionen-Infusion konnte damals das von Westminster unterstützte English National Ballet und die English National Opera am Leben halten.

Ein geiziger Schatzmeister, verarmte Kommunen und eine permanente Wirtschaftskrise — diese drei Faktoren reichen schon jeder für sich genommen, um die zumindest in den ersten Akten stets quicklebendige britische Shakespeare-Schlachterei in ein lethargisches Trauerspiel zu verwandeln. Wenn sich alle Destruktionsviren schließlich vereinen, bleibt oft nichts anderes übrig, als eine neue „Theatre Dark“-Version zu inszenieren — wie im Falle des Liverpool Playhouse.

Nachdem das Playhouse seine Schulden von 1,8 Millionen Mark nicht begleichen konnte, dirigiert mit Frank Taylor nun ein Schuldenverwalter die Geschicke des ältesten Repertoire-Theaters Großbritanniens. Seit 1988 sind die öffentlichen Zuschüsse für das Playhouse um über 600.000 Mark gefallen. Der Grund: Die um die Zehnprozentmarke schwankende Inflationsrate saugt alle nominalen Erhöhungen auf und frißt sich in das bestehende Budget. Zwar unterstützt der für die Verteilung der Regierungsgelder verantwortliche Arts Council (AC) das Playhouse mit über 1,5 Millionen Mark im Jahr, doch ist dieses Geld an einen entsprechenden Zuschuß der Kommune gebunden. Das heißt: Der Arts Council zahlt nur, wenn auch die Stadt Liverpool ihren Tribut an die Künste zollt. Liverpool aber ist pleite und offeriert mit 300.000 Mark gerade mal ein Fünftel der vom Arts Council geforderten Gelder.

Die Bindung des AC-Fonds an kommunale Zuschüsse stößt zunehmend auf Kritik. John Stalker, der Direktor des Playhouse, sieht sein Theater in einen Kampf zwischen dem Londoner Arts Council und den Kommunen verwickelt: „Im Prinzip ist zwar nichts gegen die Politik des Arts Council auszusetzen, aber in der Praxis sieht es so aus, daß die Stadträte kein Geld für die Kultur übrig haben — sie bekommen dafür schließlich auch nichts aus London.“ Für Simon Mundy, Direktor der „National Campaign for the Arts“, hat insbesondere die letztjährige Steuerreform mit ihren Einbußen für die Gemeinden die AC-Politik ausgehöhlt: „Wenn die Kommunen — wie in diesem Fall durch die Kopfsteuer — schlichtweg zahlungsunfähig sind, dann gibt es auch kein Geld für die Künste.“ Ein Teil der Schuld, so Mundy, sei aber auch den Kommunen zuzuschreiben: „Die Stadträte müssen endlich einsehen, daß die kulturelle Infrastruktur genauso wichtig ist wie alles andere auch.“

Frank Taylor, der Schuldenmanager des Liverpool Playhouse, hat noch knapp zwei Monate Zeit, um Geldgeber zu finden. Dies allerdings wird sich als äußerst kompliziert erweisen — aus eben denselben Gründen, die zur Krise geführt haben. „Ich bin da ziemlich pessimistisch“, gesteht John Stalker.

Wenn an der Merseyside in Liverpool die Lichter ausgehen, werden sie im Londoner Westend wieder angeknipst: Nachdem der Arts Council etwa vier Millionen Mark aus einem „Aufstockungsfonds“ zur Verfügung gestellt hat, kündigt die Royal Shakespeare Company nun für den kommenden März ihre Rückkehr auf die Londoner Bretter an. Allerdings ist auch dieser vom damaligen Kultusminister David Mellor überraschend erkämpfte Aufstockungsfonds — 70 Millionen Mark für die nächsten drei Jahre — an gleichwertige Zuschüsse der Gemeinden gebunden. „Wir müssen jetzt bis Ende März einen entsprechenden Betrag von der City of London Corporation bekommen“, nennt Caro Newling von der Royal Shakespeare Company die nächste Frist. Ansonsten heißt es für Shakespeares Intriganten ab August wieder „Theatre Dark“.