Indien: Hart oder sanft aus der Ölkrise

Bei der Konferenz im Land des großen Energiehungers nehmen die Brennstoffsorgen der „Dritten Welt“ relativ breiten Raum ein/ Beispiel Indien: Wie hierzulande streiten Energiezentralisten und Anhänger alternativer Konzepte um die beste Lösung  ■ Aus Washington B. Petersen

Der indische Wissenschaftler Amulya K.N. Reddy frappiert seine Zuhörer mit Abkürzungen, die er nach eigenen Angaben dem „feinen Oxford-Englisch“ entnommen hat. „Grosscon“ und „Defendus“ heißen zwei Zauberformeln, mit denen er mögliche Energiepfade der Zukunft auf dem Subkontinent umschreibt. Neben der heimischen Energiepolitik, Solartechnologien und japanischer High-Tech bilden in der Session „Energie und Technologie“ der Washingtoner Konferenz Technologien für Entwicklungsländer einen Schwerpunkt.

Sitzungsleiter Mark D. Levine vom kalifornischen Lawrence Berkeley Laboratory erinnert einleitend daran, daß auch Entwicklungsländer Energie brauchen — und zwar immer mehr. Die Wachstumsrate beim Energieverbrauch lag dort in den letzten 20 Jahren siebenmal höher als in den Industrieländern: Pro Jahr bei durchschnittlich 5,3 Prozent gegenüber etwa 0,7 Prozent in den Industrieländern. Doch das phänomenale Energiewachstums täuscht. Der Pro- Kopf-Verbrauch in der Dritten Welt ist immer noch zehnmal niedriger als in Westeuropa und zwanzigmal niedriger als in den USA. Dennoch gibt es auch in den Entwicklungsländern Energiefresser, insbesondere veraltete Kraftwerks- und Industrieanlagen, die ihre fossilen Brennstoffe entscheidend schlechter ausnutzen als entsprechende Anlagen hierzulande. Die Verluste beim Energietransport übertreffen die in den „entwickelten“ Staaten gar um einen Faktor zwei bis vier. Alarmierende Zahlen, die die Kongreßplaner veranlaßt haben, gezielt Wissenschaftler aus den betroffenen Ländern Brasilien, China und Indien nach Washington zu bitten.

Indiens Energieproblem trägt den Namen Öl. Reddy, Energieplaner an einem Institut im südindischen Bangalore, hält die Situation heute für wesentlich prekärer als noch vor zehn Jahren. Zentrale Ursache sei bisher nicht etwa der Golfkrieg, sondern der „ungezügelte Appetit auf Diesel, Petroleum und Benzin“. Auch in Indien stauen sich immer mehr Personenwagen auf den Straßen, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel geht zurück. In den meisten Häusern fehlt elektrisches Licht. Sie werden mit Petroleum beleuchtet und beheizt. Der Straßenverkehr schluckt das Gros des Öls. Anders als in den industrialisierten Ländern fahren die meisten Autos Diesel, den Löwenanteil fressen die Lkw. Sie bleiben so lange billige Transportmittel, wie die staatlich subventionierten Dieselpreise nur leicht über denen für Petroleum liegen. Reddy gibt auch einer Benzinpreiserhöhung nur wenig Chancen. Dann, fürchtet er, würden die Lkw- Fahrer einen Cocktail aus Diesel und Petroleum mixen, mit der absehbaren Folge einer für die Ärmsten der Armen verheerenden Petroleumknappheit. Statt dessen schlägt Reddy ein Vierpunkte-Programm vor, daß vor allem auf sparsamen Verbrauch von Rohölprodukten setzt. Autofahrer sollen zurück in die öffentlichen Verkehrsmittel gelockt, der Güterverkehr auf die Schiene verlagert und vor allem das Öl durch alternative Brennstoffe ersetzt werden. Vom Transfer auf die Schiene verspricht sich der Energieplaner eine erhebliche Reduzierung des Dieselverbrauchs. Busse und Lkw seien regelmäßig überladen, klagt Reddy, was die Fahrer jedoch keineswegs davon abhalte, wie wahnsinnig zu rasen. Reddys Gegenmittel: kleinere Motoren.

Damit allein wäre Indiens Ölkrise lange nicht behoben. Reddy plädiert deshalb für eine Radikalkur. Das Öl soll völlig aus dem Transportwesen verbannt und nach brasilianischem Vorbild durch Naturgas für den städtischen Verkehr ersetzt werden. Gas sei zur Genüge vorhanden, billig und umweltverträglich. Dagegen glaubt der indische Wissenschaftler nicht, daß photovoltaisch erzeugter Wasserstoff in seinem Land künftig einen wesentlichen Beitrag liefern kann. Größere Chancen hätten da schon die alkoholischen Brennstoffe Ethanol und Methanol.

Doch es gibt auch noch ganz andere Pläne — Zum Beispiel „Grosscon“: Das Kürzel steht für ein Konzept, bei dem der Energieverbrauch weiter steigt, in der Hoffnung, daß damit das Wachstum angekurbelt wird. „Grosscon“ steht für das englische Wortungetüm „growth-oriented supply-sided consumption-directed“. Die Oxfordsche Interpretation bereitet Reddy sichtlich Vergnügen. „Gross“ bedeutet „flagrant“ und „con“ bedeutet „confidence trick“, zu deutsch: eine ungeheuerliche Hochstapelei. Der Wissenschaftler verdeutlicht das mit einem Szenario für den südindischen Bundesstaat Karnataka. Im Mai 1987 erstellte die regionale Energiebehörde dort einen Energieplan, nach dem Weltbankgelder und Finanzmittel von der Zentralregierung in Delhi plus 25 Prozent des bundesstaatlichen Haushalts allein für den Bau eines hochmodernen Kohlekraftwerks (1.000 Megawatt) und eines Atomkraftwerk (2.000 Megawatt) aufgebracht werden sollen. Als Gegenleistung, spöttelt Reddy, „verspricht der Plan Energiemangel bis ins nächste Jahrhundert“. Kurz: Energiepläne dieser Art seien keine Lösung, sondern verschärften das Problem.

Alternativ dazu fordert er eine „weisere, verbraucherorientierte Energiebereitstellung, die auf billige, umweltfreundliche Energiequellen zurückgreift“. Die zugehörige Alternativformel heißt „Defendus“: „development-focussed end- use-oriented service-directed“. Reddy erklärt, was das für den Bundesstaat Karnatka bedeuten würde. Es könnten arbeitsintensive Industrien entstehen, effektive Bewässerungsanlagen und eine dezentrale, sichere Energieversorgung für die ländlichen Gebiete. Trotzdem würde der Energieverbrauch nur 40 Prozent des Energiemangelprogramms „Grosscon“ ausmachen. Als Energiequelle für „Defendus“ soll u.a. Biomasse eine große Rolle spielen, weil dadurch „hocheffiziente Brennstoffe zum Kochen bereitgestellt werden und gleichzeitig die Effizienz der Holzöfen radikal verbessert wird“. Der Energieplaner aus Südindien glaubt, daß sogar Holz gespart würde, mit dem dann wiederum Flüssigbrennstoffe hergestellt werden könnten. Daß dafür Wälder abgeholzt werden müßten, mit den bekannten Folgen für das Klima, ist an diesem Tag kein Thema.

Ein künftiges Thema müssen allerdings verstärkte Bemühungen der USA und anderer Industrieländer bei der Suche nach effizienten Energien für die Entwicklungsländer sein. Sitzungsleiter Levine favorisiert in Washington eher konventionelle Lösungen: Schulungsprogramme, Energiepläne und günstige Kredite. Dann, so meint er, könnten die globalen CO2-Emmissionen fossiler Brennstoffe um 25 Prozent gedrückt werden. Vom ungebremsten Energierausch zu Hause allerdings war auch bei Levine nicht die Rede...