Parteien im Gestrüpp der Entschädigungsforderungen

In Ungarn kommt die Privatisierung nicht voran/ Wegen unklarer Eigentumsverhältnisse sind von 9.000 kleinen Betrieben gerade fünfzehn verkauft  ■ Aus Budapest R. Hofwiler

Ungarns großes Programm der Privatisierung der Wirtschaft ist gerade dort zum Stillstand gekommen, wo Wirtschaftsexperten die größten Hoffnungen sahen: im Aufbau eines wirtschaftlich breiten Mittelstandes. Nach der großen politischen Wende im letzten Jahr gingen einige Dutzend gutgehender Unternehmen und Hotels „weg wie warme Brötchen“, hatte Finanzminister Mihaly Kupa noch beobachtet. Doch nach dem ersten Ansturm wurde es still. Inzwischen mag niemand mehr investieren.

Joint-ventures, Gemeinschaftsunternehmen mit Westfirmen, gibt es bislang nur in einigen wenigen Branchen: Touristenbüros, Versicherungen, Makler- und Rechtsberatungsfirmen haben insgesamt ein Investitionsvolumen von knapp einer Milliarde Dollar. Von den 9.000 kleinen Geschäften, Handwerksbetrieben und Gaststätten jedoch, die seit Juli letzten Jahres zum Verkauf ausgeschrieben wurden, konnten bisher genau fünfzehn veräußert werden. Immer der gleiche Grund läßt jedes Geschäft zwischen staatlichen Eigentümer und privatem Geschäftsmann platzen: Unklare Eigentumsverhältnisse machen jeden Kauf zu einem juristischen Wagnis. Denn wie überall in den ehemaligen Ostblockstaaten fordern die von den Kommunisten enteigneten BürgerInnen ihren Besitz zurück oder zumindest eine Entschädigung.

Aber wie nun diese Reprivatisierung einleiten, wie die klaren Eigentumsverhältnisse schaffen, aufgrund derer neue Käufe überhaupt erst möglich würden? Die jetzigen Regierungsparteien, das Demokratische Forum und die Partei der Kleinbauern, haben ihren Wahlkampf mit überzogenen Versprechungen auf Entschädigung des ab 1949 verstaatlichten Besitzes bestritten. Vier Millionen Hektar Land und 3.870 Industriefirmen im Wert von einer Milliarde Dollar müßte der Staat auf der Stelle schon jetzt jenen aushändigen, die bereits einen Entschädigungsantrag genehmigt bekamen. Doch die Staatskassen sind leer, und Ungarn hat exorbitant hohe Auslandsschulden von 20 Milliarden Dollar; allein mit zwölf Milliarden steht das Land bei westlichen Banken in der Kreide.

Finanzminister Kupa gibt ohne Umschweife zu, daß die Regierung in den nächsten Jahren nur in der Lage sei, fünf bis zwanzig Prozent des zu privatisierenden staatlichen Eigentums zurückzugeben, in diesem Jahr erstmals Werte in Höhe von 900.000 Dollar. Nach diesem Schema würde es aber bis zu zwanzig Jahren dauern, bis der staatlicher Besitz in private Hände übergegangen wäre.

Die ehemaligen Eigentümer befürchten, die Inflation von derzeit 50 Prozent könne den jetzt ermittelten Betriebswert ihrer alten Grundstücke, Häuser oder Betriebe auffressen. Viele Geschäftsleute wollen so schnell wie möglich in den neuentstandenen Markt investieren und nicht erst Jahre warten, bis sich herausgestellt hat, ob nicht ein alter Eigentümer doch noch Anspruch auf ein bereits erstandenes Anwesen haben könnte. Doch auch der ungarische Staat erwartet sich von schnellen Kaufabschlüssen einen wirtschaftlichen Aufschwung, ohne den das kleine Land an der Donau immer tiefer in die Krise stürzen würde. Aber dieser ist bisher nicht in Sicht.

Im Gegenteil. Von Tag zu Tag wird die Debatte darüber, wie die Reprivatisierung staatlichen Besitzes zu einer befriedigenden Privatisierung geführt werden könnte, noch undurchsichtiger. Forum und Kleinlandwirte sind mittlerweile gar so weit zerstritten, daß Beobachter einen Bruch der Regierungskoalition und mögliche Neuwahlen in naher Zukunft nicht mehr ausschließen.

Wollen die Kleinlandwirte, daß der gesamte landwirtschaftliche Boden allen Eigentümern zurückgegeben werden müßte — auch jener einen Million Menschen, die zwischen 1948 und 1968 in die Städte abwanderten —, so betrachten das Forum und die großen Oppositionsparteien gerade diese Forderung als Dolchstoß für die Wirtschaft. Denn während die Arbeitsproduktivität in der Industrie ständig fällt, produziert allein die kolchoseähnlich aufgebaute Landwirtschaft Exportüberschüsse, die zur Sanierung des Staatshaushaltes dringend gebraucht werden.

Selbst Meinungsumfragen bestätigen, daß die ländliche Bevölkerung Ungarns sich gegen Rückgabe von Bodenflächen um jeden Preis ausspricht. Nur jenen, die noch aktiv als Bauern und Bäuerinnen tätig sind, sollte unter die Arme gegriffen werden. Die Oppositionsparteien wollen ihrerseits aber nicht mit dem Forum zusammenarbeiten, da sie Entschädigungsansprüche bereits ab 1939 anmelden wollen. Von diesem Zeitpunkt an wurden unter anderem hunderttausende Juden Schritt für Schritt ihres Vermögens beraubt — das kommunistische Kadarregime, so die Opposition, unterschlug obendrein die deutschen Wiedergutmachungszahlungen.

Die Opposition fordert deshalb für jeden geschädigten ungarischen Staatsbürger, der seit 1939 enteignet wurde oder dem die Staatsbürgerschaft in den Kriegswirren oder während der Flüchtlingswelle nach der Niederschlagung des 56er Aufstandes aberkannt wurde, eine einheitliche „Volksaktie“ von 250 Dollar. Mehr sei wirtschaftlich nicht drin, und eine lange Diskussion darüber, wie die Reprivatisierung staatlichen Besitzes angepackt werden sollte, schade der Wirtschaft mehr, als letztlich jede andere Lösung mit sich bringen könnte. Zum einen sei rechtlich keine gerechte Entschädigung möglich, eine rechtlich einwandfreie aber niemals gerecht, und zum anderen würde bei den zu erwartenden Millionen Anträgen auf Entschädigung ein enormer bürokratischer Apparat geschaffen werden, was aber auf jeden Fall umgangen werden soll.

Ein Ende des Parteienstreites ist einstweilen nicht in Sicht. Einig sind sich hingegen die Investitionswilligen vom kleinen Geschäftsmann bis zum internationalen Konzern. Ihre Devise: Abwarten.