Rilkes Panther

■ „Zeit des Erwachens“ — Gelungene Adaption einer Fallstudie

In Wien wurde 1916 der erste Fall einer seltsamen neuen Gehirnkrankheit bekannt. Die „Encephalitis Lethargica“ oder „Europäische Schlafkrankeit“ breitete sich schnell weltweit aus und verschwand 1927 ebenso so plötzlich wie sie aufgetaucht war. Fast fünf Millionen Tote und unzählige schwergeschädigte Menschen blieben am Ende der Epidemie zurück. Der Neuropsychologe Oliver Sacks stieß 1966 in einem Krankenhaus in der Nähe von New York auf etwa 80 Überlebende dieser Krankheit. „Fast die Hälfte dieser postenzephalitischen Patienten war in einen Zustand pathologischen 'Schlafs' versunken, buchstäblich sprach- und bewegungslos — absolute Pflegefälle“, beschreibt Oliver Sacks ihren Zustand in der Einleitung seines 1973 zum ersten Mal veröffentlichten Buchs Awakenings — Zeit des Erwachens. 30 bis 40 Jahre lang hatten diese Menschen im Hospital Beth-Abrahams dahinvegetiert. Sie waren, als unheilbar eingestuft, von der Schulmedizin längst aufgegeben worden.

Der junge Sacks beginnt sich intensiv um die Gruppe zu kümmern, versucht „im Rahmen meiner Möglichkeiten Beziehungen zu den Patienten herzustellen.“ Er ist fest davon überzeugt, daß der Geist der Kranken nur schlummert und nicht tot ist. Als er den 46jährigen Leonard L. — „völlig sprechunfähig und nicht in der Lage, willkürliche Bewegungen auszuführen (bis auf winzige Bewegungen der rechten Hand, die mit Hilfe einer kleinen Buchstabiertafel Mitteilungen 'schreiben' konnte)“ — fragt, wie er sich fühlt, womit er seinen Zustand vergleichen würde, bekommt er als Antwort: „Im Käfig. Beraubt. Rilkes Panther.“

Etwa zu der gleichen Zeit begann man ein neues Medikament recht erfolgreich bei Parkinson-Patienten einzusetzen: Dopamin (L-Dopa), ein Neurotransmitter, eine chemische Verbindung, mit deren Hilfe die Gehirnzellen untereinander wieder kommunizieren können. Da das Kranheitsbild der Encephalitis Lethargica dem des Parkinsonismus sehr ähnlich ist, lag es für Oliver Sacks nahe, seine Patienten mit L-Dopa zu behandeln. Die ersten Versuche zeigen jedoch keine Wirkung. Erst als er die Dosis der Droge gefährlich erhöht, geschieht das Wunder: Die Schläfer erwachen!

Oliver Sacks Fallstudien der epidemischen Schlummersucht beschäftigten schon bald die Künstler. 1974 enstand ein Dokumentarfilm von Duncan Dalls, der englische Dramatiker Harold Pinter schrieb 1982 seinen Einakter A Kind of Alaska und 1987 ließ sich John Reeves von dem Buch inspirieren und machte daraus ein Hörspiel für den Kanadischen Rundfunk. Im selben Jahr klopfte auch Hollywood bei Oliver Sacks an. Der war zunächst nicht begeistert: „Ich war mir nicht sicher, was ich von dem Drehbuch halten sollte.“ Viele Einfälle gefielen ihm nicht, so z.B. die Tendenz, das Hospital und die Ärzte als phantasielos und repressiv darzustellen. Was ihm aber zusagte, waren „die emotional gelungenen Porträts und die wahrheitsgetreue Ausgestaltung des Innenlebens der Personen“. Dieses Kompliment gebührt Robin Williams, der die Rolle des Arztes, Sacks Rolle, übernahm und vor allem Robert De Niro, der den Patienten Leonard spielt.

De Niro, Anhänger des sowjetischen Schauspieltheoretikers Stanislawski („Meine Methode ist auf der Verschmelzung des Inneren mit dem Äußeren aufgebaut“) bereitete sich wieder mehr als gründlich auf seine Rolle vor. Als er hörte, daß im Highlands-Hospital in London noch neun postenzephalitische Patienten lebten, flog er mit Sacks hin, sprach stundenlang mit ihnen und nahm sie auf Band auf, um sie später in Ruhe studieren zu können. Die Bessenheit hat sich gelohnt, De Niro ist sehr überzeugend und äußerst beeindruckend in seiner Darstellung.

Zeit des Erwachens ist ein Spielfilm und so wurde natürlich einiges weggelassen und anderes eingefügt. Das ewige Sabbern der Patienten mochte man z.B. dem Kinopublikum nicht zumuten, dafür wurde eine kleine Liebesgeschichte zwischen aufopfernder Schwester und schüchternem Arzt hinzugedichtet. Regisseurin Penny Marshall bewegt sich damit manchmal nahe am Abgrund zum Kitsch, daß sie nicht abstürzt, verdankt sie ihren Schauspielern. Ähnlich wie Milos Foremans Einer flog über das Kuckucksnest in dem der Rabauke Jack Nicholson die Insassen einen Nervenheilanstalt als einziger wie lebende Geschöpfe behandelt, ist auch Penny Marshalls Film ein Plädoyer für die Menschlichkeit, aber ein weitaus ruhigeres. Es sind die kleinen Dinge, ein Blick aus dem Fenster, ein Gespräch, durch die die Schlummersüchtigen das Leben neu entdecken. Doch auch die Wut und Verzweiflung über ihr „verschlafenes“ Leben, wie bei der Patientin, die als Mädchen „einschlief“ und als alte Frau „aufwachte“, werden realistisch und ohne Übertreibungen dargestellt. Besonders das letzte Drittel des Films, wenn sich die befürchteten Nebenwirkungen von L-Dopa zeigen, und die Patienten, die gerade noch voller Hoffnung waren und Pläne machten, langsam wieder versinken und so erneut zu Gefangenen in ihren eigenen Käfigen werden, ist sehr bewegend und liebevoll inszeniert.

Zweifellos ist Zeit des Erwachens eine der herausragendsten Hollywood-Produktionen der letzten Zeit. Warum die Leitung der Berlinale den Film für den Wettbewerb des Festivals ablehnte, ist daher völlig unverständlich und nicht nachvollziehbar.Karl Wegmann

Penny Marshall: Zeit des Erwachens mit Robert De Niro, Robin Williams u.a.; USA 1990, 104 Min.

Oliver Sacks: Awakenings - Zeit des Erwachens , Rowohlt, 460 S., 14,80 DM