Maggies letzte Rache

■ Europa muß sich von der US-Strategie im Golfkrieg abkoppeln DOKUMENTATION

In diesen Tagen, wo der Golfkrieg entweder beendet oder endgültig zum Dritten Weltkrieg wird, macht sich jeder seinen eigenen Reim auf das Unbegreifliche. Meiner fängt immer wieder mit derselben Frage an: Wo waren bloß für Europäer in der Vorphase des Krieges? War denn nicht in jede europäische Familie durch abrufbare historische Erfahrung die Erbinformation eingespeichert, daß nichts, was mit den Mitteln des Krieges zu verteidigen vorgegeben wird, am Ende noch existieren wird? Stand nicht gerade Europa am Ende dieser Jahre der politischen Aufbrüche vor dem Beginn einer Friedensepoche, über deren Verletzlichkeit und Gefährdung kein Zweifel sein konnte?

Als der Warschauer Pakt aufhörte zu existieren, verschärfte sich der Widerspruch zwischen den europäischen und den amerikanischen Interessen dramatisch. Keiner hat ihn geplant, keiner hat ihn gewollt, er wurde noch nicht einmal beim Namen genannt — es war die Wirklichkeit, die diesen Konflikt vor die europäische Haustür legte. Mit der Rückkehr der osteuropäischen Länder und der Sowjetunion nach Europa waren die Amerikaner auf dem alten Kontinent faktisch überflüssig geworden. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs waren die USA als Ordnungsmacht der alten Weltordnung geschwächt. Die Nato hatte ihren Seinsgrund verloren. Wahrscheinlich wurde sie gerade deswegen nicht aufgelöst, weil diese reale Schwächung der Weltmachtrolle der USA nicht öffentlich demonstriert werden sollte. Aber, so grausam es klingt: Mit dem Fall der Mauer fiel ein Stück Weltstabilität und auch ein Stück Weltfrieden.

Nehmen wir einmal an, alle Seiten hätten diesen Konflikt geahnt, ohne ihn zuspitzen zu wollen. So gesehen wäre der amerikanische Plan, sich außerhalb Europas wirtschaftlich und politisch mehr zu engagieren, gleichsam der Versuch, einer offenen Konfrontation mit den Europäern auszuweichen. Gleichzeitig konnte er die angekränkelte amerikanische Identität durch ein Engagement heilen, das aufs schönste Menschenrechtsinteressen und wirtschaftlichen Nutzen verband. So gesehen wäre dann die Unterstützung der Europäer für die UN-Resolution mit dem verhängnisvollen Ultimatum so etwa wie eine Umarmung und fürsorgliche Belagerung durch die befreundeten Staaten gewesen, um die USA weder zu isolieren, noch ihnen eigenständige militärische Aktionen zu erlauben.

Das hätte also eine sehr kluge Diplomatie sein können. So war sie wohl auch geplant. Nur: Sie hätte erfolgreich sein müssen. Erfolgreich konnte dieses Ultimatum aber deswegen nicht sein, weil dieser Schachzug nur für die europäisch-amerikanischen Spieler geplant war. Es handelte sich aber nicht mehr um einen atlantischen Ost-West-Konflikt, sondern um die erste Nord-Süd-Konfrontation mit Weltbedeutung.

Das gleiche Mittel nämlich, das die USA hinderte, vorzeitig militärisch einzugreifen, das Ultimatum, hinderte den irakischen Diktator, sich aus Kuwait zurückzuziehen. Arabern stellt man keine Ultimaten, mit Arabern muß man verhandeln. Gerade das aber durfte nach dem westlichen Kodex nicht geschehen: Mit Diktatoren und Terroristen verhandelt man eben nicht, denen stellt man Ultimaten. So durfte dann weder Willy Brandt noch ein europäischer Außenminister noch Pérez de Cuéllar irgendetwas dem irakischen Diktator anbieten, was auch nur entfernt nach Verhandlungsangebot aussah. Wenn sie überhaupt reisen durften, dann jedenfalls mit leeren Händen.

Nun gehörten die europäischen Staatsmänner allesamt mit doppelter Verwarnung auf die Strafbank, wenn sie nicht für den Fall des ergebnislos ablaufenden Ultimatums vorbeugend ein Verhandlungskonzept, einen Kriegsverhinderungsplan für die Region vorgesehen hätten. Man darf also ruhig davon ausgehen, daß sowohl Fran¿ois Mitterrand wie Gorbatschow und Genscher solche Überlegungen und Konzepte in Kopf und Tasche hatten. Wäre es anders gewesen, hätte Bonn nicht eine geradezu provozierende Normalität im unbedarften Koalitionskleinklein ausgerechnet am 15./16.Januar praktizieren können, während der sowjetische Präsident mitten in der Nacht vergeblich hinter Herrn Saddam Hussein hertelefonierte, und der französische Präsident eilends einen fliegenden Boten nach Bagdad aussandte.

Wir müssen also annehmen, daß die Mehrzahl der europäischen Staatsoberhäupter an diesem Datum nicht mit dem Kriegsausbruch rechnete und regelrecht überrumpelt worden ist. Eines Tages werden wir darüber mehr wissen.

Mein Reim sagt mir: Es handelte sich um Maggies letzte Rache. Die grausame englische Eminenz muß es gewesen sein, die mit der anglo-amerikanischen Militäraktion die französisch-deutsch-sowjetischen Verhandlungsinitiativen vereitelte. Die Gründe liegen auf der Hand: Außer den Amerikanern waren auch die Briten durch die östlichen Umwälzungen an den Rand Europas gedrängt worden und mit ihnen Frau Thatchers gesamte Europapolitik. Ihre Zurückhaltung gegenüber Festlandseuropa ließ sich zuletzt nicht einmal mehr bei den Konservativen halten. Auch die stärker werdende Rolle der Deutschen hatte sie seit langem beunruhigt. Da mußten Fakten geschaffen werden. Und eins hatte Maggie Thatcher in diesem Wiedervereinigungsjahr gerade von den Deutschen gelernt: Wer in der Weltpolitik die Nase vorn haben will, der muß aufs Tempo drücken.

Also machten sie Druck, die USA und Großbritannien, wohl wissend, daß sich Frankreich dann militärisch anschließen, die UdSSR wegen eigener Probleme erst einmal stillhalten und die Deutschen aus Dankbarkeitsgründen keine Einwände wagen würden. Und so kam's: Die sowjetisch-französisch-deutsche Achse kam nicht zustande. Der Krieg begann und Europa war wie gelähmt.

Was nützt dieses Graben im Schnee von gestern und dieses Stochern im diplomatischen Nebel? Es hilft vielleicht in letzter Minute eine Option offenzuhalten, die es bald nicht mehr geben könnte: den Frieden auf dem Verhandlungswege ohne eine Ausweitung der Kriegsziele. Seit der Krieg begann, hat die Taktik des Tempomachens überall Liebhaber gefunden, die mitsiegen wollen. Das wird sich noch verstärken, wenn die sowjetische Initiative an der Unentschlossenheit der Europäer scheitert. Je länger aber der Krieg dauert, umso weniger würde er mit einem eindeutigen Ergebnis enden, und die Bilder der Opfer werden das ihre dazu beitragen, wenn wir sie denn endlich ansehen dürfen und ertragen müssen. Eine fortdauernde Intifada im gedemütigten Nahen Osten wäre der trostloseste aller Pyrrhussiege — eine atomare Lösung deren apokalyptische Variante. Wenn sie denn eine andere Lösung wollen, die Europäer, haben sie nicht mehr lange Zeit, endlich einen klaren Trennungsstrich zur anglo-amerikanischen Strategie zu ziehen. Antje Vollmer

Ex-MdB der Grünen