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Das vertikale Lächeln

Neue belletristische Bewältigungsversuche weiblicher Sexualität  ■ Von Stephan Reimertz

Gibt es erotische Literatur? Gibt es literarische Werke, deren Stoff oder Gesinnung sie aus der Forderung nach literarischer Qualität entläßt? Autoren haben immer wieder beteuert, ihre Literatur sei schon gut, weil sie sozialistisch, katholisch oder österreichisch ist. Bleibt nicht ein so begründetes Werk auf halbem Weg zum Sachbuch liegen? Literatur mit vordringlich erotischem Kalkül etwa gerät fast immer zur Gebrauchslektüre im krudesten Sinn des Worts. Ein Ahnungsloser hat dies neulich wieder bezeugt, indem er an der deutschen Ausgabe des Romans Las edades de Lúlu der Spanierin Almudena Grandes, wie es hieß, Anstoß nahm und bei der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften“ — man muß sich diesen Namen auf der Zunge zergehen lassen — eine Indizierung beantragte. Doch die Beamten der anregendsten aller Bundesbehörden sind Härteres gewöhnt und verweisen auf den Kunstvorbehalt. In der Tat sollten auch wir als Leser solcher Kunst mit Vorbehalt begegnen. Der Anstoßnehmer jedoch, ein rheinland-pfälzischer Kreisjugendpfleger, gefährdet mit solcher onania ex negativo die ihm anvertraute Kreisjugend sicher nachhaltiger als das kleine Buch, das mit seiner Hilfe jetzt große Furore macht. Der Alte Fritz schickte den Antrag eines Vereins junger Männer auf Verbot irgendeines erotischen Romans einmal mit den Worten zurück: „Heurathen, ihr sweine!“

Die staatstreue Denunziantin, die sich an allem erregt, was strammsteht, wäre als Allegorie sexuellen und menschlichen Elends geeignetes Sujet eines Romans von Elfriede Jelinek. Was bedeutet es für das spätere Leben, wenn eine weibliche Pubertät mit dem Lustobjekt Hitler hantieren muß? Thomas Bernhard und schärfer eben Elfriede Jelinek haben in ihren Stundenbüchern der tiefen Unlust die Zerstörung der Sexualität durch den Nazismus bis ins dritte Glied beschrieben. Jedes Buch Bernhards handelt vom Nationalsozialismus, jedes Buch der Jelinek von der Brutalisierung der Welt in seinem Gefolge. Ihr Buch Lust, über ein Mißverständnis in die Bestsellersphäre abgerutscht, leistet unter größtem Einsatz Literatur als Erkenntnismodell: eine traurige Wissenschaft von der beschädigten Welt.

Kein krasserer Gegensatz hierzu als die leichtfertige Brutalität, die Almudena Grandes sich bruchlos zusammengeschrieben hat. Ihre Lebensalter der Lúlu, auf deutsch Lulú mit falschem Akzent im Verlag am Galgenberg, spiegeln in erster Linie die Saturiertheit einer bestimmten Madrider Kulturschickeria und sind dann erst und sehr entfernt Reaktion auf Machismo und Franco-Diktatur. Der mit dem Etikett Literatur verkaufte Hardcore hat erhebliche Diskussionen in der literarischen Öffentlichkeit ausgelöst. Die Matratzenprobleme von Intellektuellen führen offenbar gelegentlich zu Schwächeanfällen auch im literarischen Urteil.

Gibt es überhaupt noch erotische Literatur? Das deutsche Zentralorgan für Sexualaufklärung, der 'Stern‘, läutete im März dieses Jahres eine Leder- und Peitschenfolklore ein, die sich unter dem anspruchsvoll klingenden Namen Sadomasochismus nun zunehmenden publizistischen Interesses erfreut. Das im 'Stern‘ abgebildete Fräulein, dessen Exhibitionismus weit stärker ausgeprägt ist als sein Masochismus, warf nach der prachtvollen Autorenwerbung innerhalb weniger Monate zwei einschlägige Bücher auf den Markt: Lust an der Unterwerfung und Mut zur Demut — die Titel klingen aggressiv katholisch. Der Perry- Rhodan-Verlag Moewing, dessen Programm auf den kleinstädtischen Selbsterreger zielt, landete damit richtige Bestseller. Bei quantitativ so dringlicher Nachfrage ist es wohl erlaubt, an diese Schriften auch ein paar dringliche qualitative Fragen zu stellen.

Die Autorin Sina-Aline Geißler — und das wäre ein echt masochistischer Zug an ihr — gibt es vermutlich gar nicht. Schon der erste Band wirkt wie eine Kollektivarbeit aus Livestyle- und Zeitgeistkreisen. Auch das zweite Nachschlagewerk erregt Grauen bereits durch seinen Stil.

Bei der Lektüre von Frl.Geißlers Büchern spielt sich die Erektion des Lesers nur auf dem Kopf ab: Ihm stehen die Haare zu Berge. Dennoch sind die beschriebenen Riten nicht tödlich, sondern nur tödlich langweilig. In den „erotischen Kurzgeschichten“, welche die junge Frau als Herausgeberin von Mut zur Demut gesammelt hat, wird Gewalt vor allem an der deutschen Sprache verübt. Und die Studie Türen ins Grenzenlose, angeblich von einer Hausfrau verfaßt, plagiiert die Geschichte Hotel Hell einer jungen Autorin aus Karlsruhe. Es wird schon niemand merken. Was hier als „erotische Phantasien von Frauen“ ausgegeben wird, geht noch weit unter das Niveau der vielgeschmähten Nancy Friday.

Trübe Gewässer, in denen wir da fischen. Bücher, die man eigentlich nur nach sechs Wochen Isolationshaft mit Genuß lesen kann. Jetzt wird deutlich, wie ingeniös Anais Nins Short stories gewesen sind — wie die Memoiren der Mutzenbacher, an denen schon unsere Urgroßeltern sich erfreuten.

Zum Schluß aber soll eine bemerkenswerte Initiative nicht verschwiegen werden. Varietas delectat! möchte man mit Cicero sagen (De deorum natura, I, 9, 22), wenn man einen Band des von Claudia Gehrke unter dem Titel Mein heimliches Auge herausgegebenen Jahrbuchs der Erotik aufschlägt. Der Konkursbuchverlag bietet mit dieser inzwischen im fünften Band angelangten Unternehmung eine Art Sittengeschichte der achtziger Jahre. Die reproduzierten Fotos und Gemälde sind zum überwiegenden Teil von größtem kunsthistorischen Interesse. Gemeinschaftliche Betrachtung wird angeraten. Die Perspektiven dieser Alltagsethnologie sind fern von gymnasialer Schlüssellochromantik, Vernissagenkitsch oder Bahnhofskino. Überraschende Blicke in die abgewandte Seite des täglichen Lebens oder gelinde Perversion. Bildende Kunst meist von Frauen, die selbst der hypnotischen Faszination weiblicher Sexualität erlegen sind.

Aber ach! So authentisch und originell die Bildbeiträge, so leerläufig die Texte. Verblasenes Zeug, viel Gestöhn um nichts; vugae vulvae, wie Ovid dergleichen genannt hätte, wäre ihm dieser Begriff geläufig gewesen. Claudia Gehrke sollte die literarische Latte etwas höher legen, wenn man so sagen darf. Erotische Literatur spielt sich nicht zwischen den Beinen, sondern zwischen den Zeilen ab.

Almudena Grandes: Lulú, Verlag am Galgenberg, 264 Seiten, 39,80DM

Sina-Aline Geißler: Lust an der Unterwerfung , Mut zur Demut , Moewing, beide 26DM

Glaudia Gehrke und Uve Schmidt (Hg.): Mein heimliches Auge · Das Jahrbuch der Erotik V , mit vielen Abbildungen, Konkursbuchverlag, 224 Seiten, 29,80DM.

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