Harry Tisch leidet stumm auf der Anklagebank

Im Prozeß gegen den ehemaligen FDGB-Chef ging es bisher vor allem um dessen Verhandlungsfähigkeit  ■ Von Martin Kempe

Mit halbgeschlossenen Lidern sitzt Harry Tisch neben seinen beiden Verteidigern, den Anwälten Hubert Dreyling aus West- und Winfried Matthäus aus Ostberlin. In einem lethargischen Dämmerzustand läßt er sie gewähren, wechselt manchmal mit schleppenden Bewegungen seine Sitzhaltung. Zuweilen hört man ein tiefes Aufatmen, so vorsichtig und gedämpft, als wollte er jede Lebensregung verbergen. Harry Tisch, der einst so mächtige Vorsitzende des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB, ist tief gefallen. Der Untersuchungshäftling wird an den Prozeßtagen aus dem Haftkrankenhaus Plötzensee dem Berliner Landgericht in Berlin- Moabit vorgeführt. Der Angeklagte in diesem ersten Prozeß gegen führende Machthaber aus der ehemaligen DDR ist offensichtlich depressiv. „Hoffentlich ist es bald vorbei“, schrieb er am 3.Februar an seine Frau, die von den Zuschauerbänken aus mit mühsam unterdrückter Anspannung den Prozeß verfolgt.

Harry Tisch ist angeklagt, als Vorsitzender dem FDGB einen Schaden von rund 104 Millionen Mark zugefügt zu haben. Für rund 87.000 Mark soll er zusammen mit Familienangehörigen und Freunden, darunter dem ehemaligen DDR- Wirtschaftsboss Günter Mittag, umsonst im FDGB-Ferienheim Graal- Müritz Urlaub gemacht haben. Bezahlt wurde aus dem persönlichen „Verfügungsfonds“ des Vorsitzenden. Außerdem wird Tisch angeklagt, eigenmächtig und satzungswidrig der DDR-Jugendorganisation FDJ 100 Millionen Mark aus dem Solidaritätsfonds des FDGB für ein Jugendfestival im Jahre 1984 überwiesen zu haben. Und schließlich habe Tisch für rund 4,5 Millionen Mark das Jagdgebiet Eixen luxuriös ausbauen lassen, obwohl es ausschließlich privat genutzt wurde.

Die beiden Anwälte bilden ein ungleiches Gespann: Dreyling temperamentvoll, zur theatralischen Geste neigend, Matthäus dagegen ruhiger, sachlich bis zur Sprödigkeit. Offensichtlich bestimmt der Westanwalt die Verteidigungsstrategie. Er verbucht es als Erfolg, daß das Gericht Anfang Februar den letzten Punkt der Anklage, den Ausbau des Jagdgebietes Eixen, abgetrennt und dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt hat. „Vertrauensmißbrauch zum Schaden sozialistischen Eigentums“ heißt die Bestimmung des Paragraphen 165 des DDR-Strafrechts, die vom DDR-Übergangsparlament beschlossen wurde, um die SED- Machthaber strafrechtlich belangen zu können. Dieser Paragraph wurde in den Einigungsvertrag übernommen und ist damit paradoxerweise bundesdeutsches Recht geworden. Zu Unrecht, meint das Gericht, denn er verstoße gegen Prinzipien des Grundgesetzes: Gesetze dürfen nicht nur auf einen bestimmten Personenkreis zugeschnitten sein. Und außerdem sei mehr als fragwürdig, so der Vorsitzende Richter Jürgen Herdemerten, ob ein bundesdeutsches Gericht jemanden wegen Verbrechens gegen das „sozialistische Eigentum“ überhaupt verurteilen könne. Schließlich wird gerade das jetzt allenthalben abgeschafft.

Der einst red- und trinkselige Harry Tisch hat sich bisher weder zur Anklage noch zum Prozeßverlauf geäußert. Nicht einmal mit den Verteidigern spricht er während der Verhandlung. Die haben sich bisher ganz darauf verlegt, dem 63jährigen Angeklagten diesen Prozeß ganz zu ersparen. Mit aller Macht focht die Verteidigung gegen den medizinischen Gutachter Prof. Dr. Erhard Phillip, der sein vor dem Prozeß schriftlich formuliertes Urteil am 8.Februar in mündlicher Verhandlung noch einmal bekräftigte: der Angeklagte sei „sicherlich depressiv“. Er sei bei der Untersuchung „in Tränen ausgebrochen“ und habe beteuert, daß er sich keiner Schuld bewußt sei. Aber gravierende Funktionsstörungen seien trotz eines im September in DDR-Untersuchungshaft erlittenen Schlaganfalls nicht festzustellen. Tisch sei deshalb eingeschränkt verhandlungsfähig.

Die Verteidigung dagegen beschwört immer wieder die Gefahr eines zweiten Schlaganfalls, einer akuten Lebensgefahr für den Angeklagten, wenn der Prozeß fortgeführt wird. Der Gutachter Phillip habe das auf Grund seiner Voreingenommenheit und fehlenden fachlichen Qualifikation nicht wahrhaben wollen. Als das Gericht dem Gutachter Phillip dennoch folgt und die Herbeiziehung weiterer medizinischer Gutachter ablehnt, greift die Verteidigung zum schwersten Geschütz: Der Befangenheitsantrag gegen das Gericht markiert die äußerste Grenze ihrer Strategie, den Prozeß ganz zu verhindern. Das Gericht, schon vorher sichtlich gereizt, hält sich jedoch nicht für befangen.

Harry Tisch fühlt sich von seinen Verteidigern gut vertreten. Das schrieb er in einem vom Gericht beschlagnahmten und in der Verhandlung verlesenen Brief an seine Frau. Der einst so mächtige Gewerkschaftsführer offenbart, er leide unter dem Prozeß und dem „Presserummel“. Er habe „das Gefühl, daß ich weiter abbaue“. Was er in der Verhandlung nicht sagt, schrieb er in dem Brief: es handele sich um einen „politischen Prozeß“. Bitter enttäuscht sei er von seiner ehemaligen Büroleiterin Doris Ackermann, die ihn als Zeugin in Sachen Ferienaufenthalte belastet hatte. Er sei erschüttert, so Tisch an seine Frau, daß seine ehemalige Vertraute so „kaltschnäuzig lügen“ könne. Nach Aussagen von Doris Ackermann hat Tisch häufig nicht nur mit der engeren Familie, sondern auch mit ferneren Verwandten in den Heimen des FDGB Urlaubstage verbracht, ohne dafür aus eigener Tasche zu zahlen. Der mit Tisch befreundete ehemalige DDR- Wirtschaftsboss Günther Mittag habe sogar einmal 16.000, ein andermal 11.000 Mark zusammen mit Arzt, Leibwächtern und einem größeren Familientroß verjubelt. Tisch habe sich darüber zwar gewundert, aber schließlich alles aus dem Verfügungsfonds des FDGB-Vorstands begleichen lassen.

Der Verfügungsfonds - hier dürfte ein Schlüssel für die Mechanismen des Privilegiensystems in der ehemaligen DDR liegen. Die eigentliche Macht der DDR-Spitzenfunktionäre bestand in ihrem uneingeschränkten Verfügungsrecht über Staat und Gesellschaft. Manchmal habe sie auch gedacht, bei „so hohen Persönlichkeiten“ wie Tisch und Mittag, beide Mitglieder des Politbüros der SED, sei die private Verfügung über die FDGB-Gelder ganz normal, berichtete die Zeugin Ackermann, die gleichzeitig Tischs willfährige Handlangerin innerhalb des FDGB- Apparats war. Tisch und andere DDR-Größen standen außerhalb der DDR-Gesetzlichkeit, und dies wurde von ihren Untergebenen mehr oder weniger stillschweigend hingenommen. Doris Ackermann soll nach Aussagen eines früheren Untergebenen einmal geäußert haben: „Es gibt nichts, was es nicht gibt für den Vorsitzenden“. Um dies als DDR- Normalität zu untermauern, hat die Verteidigung die Vernehmung der ehemaligen Politbüro-Mitglieder Egon Krenz und Günter Schabowski beantragt.