Sisyphos und die Unfähigkeit, richtig zu sitzen

Mauro Roman, Olympia-Vielseitigkeitszweiter von 1980, versucht als berittener Sisyphos, die Misere des italienischen Reitsports zu beheben/ Seit Jahrzehnten traben die „Azzurri“ aufgrund miserabler Ausbildung weit hinter der Weltelite her/ Es dominiert das Reiten im Geiste der Kavallerie  ■ Von Werner und Xenia Raith

Rom (taz) — Die Reitanlage „Capannelle“ in Roms Süden nahe Ciampino gehört zu den feineren Einrichtungen der „ewigen Stadt“: zwei riesige Galoppbahnen rechts und links vom „Grande raccordo anulare“ zeigen noble Turf-Atmosphäre, eine großzügige Stallanlage mit Spring- und Dressurplatz bietet Unterkunft für hundert Pferde, eine geräumige Halle läßt sogar Innenturniere zu. Daneben Tennisplätze und Basketballfelder, ein großes Schwimmbecken fürs Ausspannen steht neben der vereinseigenen Trattoria zur Verfügung.

Wenn sich da kein schönes Leistungszentrum für jeden und für alles einrichten läßt, ja, wo dann sonst? Mal abgesehen vom leider unausweichlichen Höllenlärm, den nahe vorbeibrausende S-Bahn-Züge und vor allem landende Flugzeuge am nahen Militärflugplatz Ciampino verbrechen, spricht so ziemlich alles für gute Perspektiven. Dennoch: Mauro Roman, 39, einer der geschätztesten Reitkünstler Italiens, zieht kein sonderlich zufriedenes Gesicht: „Die Anlage hier ist sicherlich schön“, sagt er, „doch das Problem ist weder die Größe — dafür würde mir ein Zehntel reichen — noch das Ambiente. Das Problem, mit dem ich zu kämpfen habe, ist die Mentalität. Speziell dort, wo über Reitsport entschieden wird, aber auch bei den Leuten, die hier in Mittel- und Süditalien reiten wollen. Und das ist hier nicht nur ein sportliches Problem, sondern auch ein gesellschaftliches“.

Mauro Roman hat zusammen mit seiner Frau Alessandra eine Aufgabe übernommen, die seit langem als unlösbar gilt: Er soll, zusammen mit einigen Kollegen, Italiens Reiterei wieder auf die Beine helfen. Darum hat er sich vorgenommen, zu allererst für die Verbreitung einer Kunst zu sorgen, die in allen anderen Ländern nicht nur als eigene Disziplin, sondern auch als Basis für Spring- und Geländereiten gilt — die Dressur. Seit den Verantwortlichen der „equitazione italiana“ nach Jahren des Mißerfolgs allmählich klar wird, wie weit ihre Reiter auf allen Gebieten hinter der Weltspitze hinterher stolpern, greifen sie zu jedem nur möglichen Strohhalm, um wenigstens für die weitere Zukunft Anschluß zu finden.

Unvergessen sind zwar die herrlichen Duelle der Brüder Raimondo und Piero d'Inzeo und Graziano Mancinello mit den Deutschen Hans- Günther Winkler und Fritz Thiedemann — nur: Das ist schon ein halbes Menschenleben her, gut drei Jahrzehnte. 1980, bei den Olympischen Spielen in Moskau, sahnten die Italiener zwar nicht wenige Reitmedaillen ab (Mauro Roman selbst erreichte, zusammen mit seinem Bruder, in der Mannschaftsvielseitigkeit Silber) doch damals waren bekanntlich einige wichtige Konkurrenten wie die Deutschen, die Franzosen, die Amerikaner, die Schweizer aus Boykottgründen nicht am Start.

Federico Caprilli, Italiens sanfter Reitguru

„Das Problem“, sagt Roman, „liegt vor allem darin, daß vor langer, langer Zeit, anfang dieses Jahrhunderts, ein Italiener ein neues Reitdenken eingeführt hat: Federico Caprilli mit seiner ,natürlichen Reitmethode‘, bei der alles verboten war, was das Pferd nicht von selber machte — Rückwärtsrichten war ebenso verpönt wie Arbeit im Sattel selbst, man durfte faktisch nur in den Bügeln stehend reiten. Die Methode ist mittlerweile total veraltet, war ja vor allem auch aufs Militär zugeschnitten und weniger auf den Sport als solchen; doch noch immer halten unsere Ausbilder zäh an Caprilli fest.“ Nationalstolz könnte dabei mitspielen, sicherlich, aber vor allem ist es wohl die Tatsache, daß sich in Italiens „Galoppatoi“ — die schon ziemlich viel erklärende Bezeichnung für Reitanlagen — vor allem ehemalige Carabinieri und Militärreiter als Lehrer betätigen, und „die kennen halt oft nicht viel mehr als das, was ihnen die Kavallerie beigebracht hat — eben Caprilli“.

Die Folge: Ungeschoren bleibt weithin die bei Italienern sowieso verbreitete Vorstellung, das Pferd sei so etwas wie ein Auto, das man eben statt mit dem Gaspedal mit den Sporen und der Peitsche zu Ferrari- ähnlicher Beschleunigung bringt. Ausländer aller Arten, die während ihres Urlaubs in Rom oder Paestum, in Neapel oder auch im oberitalienischen Mailand ein Pferd mieten, rücken meist mit gesträubten Haaren wieder ab, wenn sie sehen, wie die Einheimischen das Pferd behüpfen, kaum eine halbe Runde Schritt gehen und dann sofort volle Pulle losgaloppieren. Dazu die Tendenz, möglichst viel Legerheit zu demonstrieren, die Zügel nur in der einen Hand, in der anderen eine Zigarette; danach gleich zehn- oder zwanzigmal über hohe Hindernisse, ohne Rücksicht auf das Pferd.

Bahnfiguren sind zumindest Fremdwörter, wenn nicht völlig unbekannt. Völlig ruinierte Pferde, hart im Maul und oft auf völlig falsche Hilfen getrimmt beziehungsweise unsensibel für irgendwelche Schenkel- und Zügelkommandos, sind die Folge, die meisten tragen den Kopf so weit wie möglich oben, um sich der Zügeleinwirkung zu entziehen. Reagiert aber ein Pferd, weil gut ausgebildet, korrekt auf Schenkel und Gewichtsverlagerung, gilt es schnell als „matto“, verrückt, weil es nur so daherschlingert — Folge der Unfähigkeit des Reiters, sich im notwendigen Gleichgewicht zu halten und korrekt zu lenken.

Wäre auch ein Wunder, bei der üblichen „Ausbildung“: Sie spielt sich in der Regel so ab, daß man eine Stunde auf dem Zirkel („un, due, un, due“) die Leichttrabbewegung lernt, dann geht's gleich in Galopp — und dann, der Kunde ist König, spätestens in der dritten Stunde auch schon über die ersten Hindernisse. An die Ausbildung eines guten Sitzes, ein Erlernen der millimeterweisen Zügel- und Schenkelhilfen ist nicht zu denken („Beine ran, Absatz tief“ ist das einzige Kommando, das die meisten Ausbilder, neben einem gebrüllten „zieh doch den rechten Zügel“, gut beherrschen).

Mauro Roman hat also eine Sisyphosarbeit übernommen, kein Zweifel. Und wahrscheinlich ist er auch wirklich einer der wenigen, die wenigstens eine winzige Aussicht haben, etwas auszurichten. Denn der gebürtige Triester hat die Eigenschaft, weder ein Blatt vor den Mund zu nehmen, noch seine Oberen zu schonen — und schon gar nicht möchte er die Dinge eingeengt auf Dressur sehen. „Ich betrachte alles gerne im weiteren Rahmen“, sagt er, „und unser Problem besteht darin, daß wir eine stockkonservative Bevölkerung und eine nicht weniger zäh am Gestern hängende Führungsschicht haben — in Sport wie in der Politik —, die weitgehend (nicht alle, aber der Großteil) unfähig ist zum Management für das Jahr 2000. Wenn sich bei uns eine Partei ein neues Programm oder einen neuen Namen sucht, steht hier alles Kopf. Der Reitsportverband wurde jahrzehntelang geführt wie ein Feudalgut, wo der Padrone nur ab und zu mal nachguckte, ob auch alles sauber ist — mehr aber schon nicht. Dann gab es einige Ansätze für eine Modernisierung, aber seit der etwas aufgewecktere Sportminister Carraro weg ist — er wurde Bürgermeister von Rom — besteht schon wieder die Gefahr des Rückschritts.“

Importierte Reitkunst aus Deutschland und England

Roman hat sich daher, eine Art Importsystem ausgedacht: Er möchte, daß die Italiener nicht nach einem neuen nationalen Caprilli suchen, sondern die Grundlagen mittlerer und höherer Reitkunst sozusagen bei denen lernen, die derzeit international führen. Als einer der wenigen im nationalen Verband begrüßte er fast enthusiastisch, daß bei der letzten Weltmeisterschaft in Stockholm Pia Laus die beste „Azzurra“ war (10. Platz der Dressur) — eine Deutsche, die nur aufgrund ihrer doppelten Staatsangehörigkeit (ihr Vater ist ein in Brüssel beschäftigter Italiener) für den Süden startete: „Vielleicht eifern unsere Leute ihr nun mal nach.“ Wäre wohl nötig — die anderen Italiener waren in Stockholm tatsächlich vor allem als „Ferner liefen“ zu vermerken — 29., 30. Und 54 Platz. Und das Springreiten, einst geradezu Domäne der Italiener, lief noch schlechter; kein einziger kam unter die ersten 50. Mauro Roman führt auch das auf die „insgesamt grundschlechte Ausbildung“ zurück, „weil eben nichts für korrekten Sitz und effektive Einwirkung aufs Pferd getan wird“.

Derzeit sammeln sich bei den Romans noch immer mehr Ausländer als Italiener, vor allem Frauen, teilweise mit bundesdeutschem oder englischem Examen — doch das kümmert die Romans wenig: Sie hoffen, daß ihre ausländischen Kollegen sich alsbald über das Land verstreuen, Unterricht aufnehmen und so die „Basis für einen Breitensport legen, bei dem die Leute zunächst mal richtig sitzen und Hilfengeben lernen und dann erst an große Turniere denken.“

Wie weit er damit bei seinen Landsleuten ankommt und insbesondere im Süden, ist allerdings fraglich. Zwar schießen in Italien, und speziell im noch mit viel Weiden gesegneten „Mezzogiorno“ Reitanlagen wie Pilze aus dem Boden — doch die meisten weisen allenfalls „roba da macellaio“ vor, Pferde für den Abdecker, und die Kunden suchen angeblich vor allem nach „Divertimento“, reinem Vergnügen, was offenbar sofortiges Lospreschen über Stock und Stein bedeutet.

Doch immerhin: Der Reitsportverband hat neuerdings beschlossen, die Schwelle für die zu Turnieren berechtigenden Reiterpässe fühlbar anzuheben, Dressur zum integrierten Prüfungsbestandteil zu machen — und künftig rigorose Kontrollen der Ställe und Anlagen auf ihre Sporttauglichkeit durchzuführen. „Vielleicht“, meint Roman, „kann man der Sache am Ende auch auf bürokratische Weise zuleibe rücken.“