Ironie und Alpenglühen

■ Peter Zadeks „Maß für Maß“ im Pariser Odeon-Theater

Schön ist das nicht, was Johannes Grützke uns da im ersten Akt aufs Proszenium gemalt hat: ein winterkaltes Alpenglühen mit viel Violett, aber dafür ohne röhrende Hirsche. Kein französischer Theaterregisseur würde sich zu derartigem hinreißen lassen, schon gar nicht in einem plüschüberfrachteten Nationaltheater wie dem Pariser ThéÛtre Odéon, wo Peter Zadek seinen neuen Shakespeare gibt: Maß für Maß.

Zadek traut sich, und er hat recht damit. Sein Stück kann es sich leisten, vor einer Fototapete gespielt zu werden, ohne an Tiefe zu verlieren. Dank der Schauspieler, die sich ausspielen können, unbeschwert von sinntriefenden Dekors und in Kostümen wie von der letzten Altkleidersammlung.

Ein Fest: Isabelle Huppert als eine Novizin mit dem nüchternen Menschenverstand einer Pariser Bäckersfrau; Heinz Schubert als Büttel Lecoude, ein kleiner Mann mit großem Knüppel und noch größerem Akzent; und dazu jede Menge Buffos, mehr oder weniger edle Kavaliere und Zazie de Paris als eingekerkerten Transvestiten Bernardin. All dies mit Spaß, Witz und ohne jedes Pathos auf die Bühne gebracht - Nüchternheit und Ironie vor Alpenwipfeln.

Das Odeon-Theater heißt mit Nachnamen ThéÛtre de l'Europe und deswegen setzt es sich nicht bloß einen nichtfranzösischen Direktor an die Spitze (wie zur Zeit den Spanier Lluis Pasqual), sondern lädt außerdem regelmäßig ausländische Regisseure zum Inszenieren ein. Diese Saison steht ein Shakespeare-Zyklus an mit Richard III (Richard Eyre), King Lear (Deborah Warner) und eben Peter Zadeks Maß für Maß, seiner nach Ulm 1960 und Bremen 1967 dritten Interpretation des Stücks. Seinen Text ließ er sich von dem derzeit tonangebenden Übersetzer Jean-Michel Déprats schreiben, und der machte seine Sache ausgezeichnet.

Das Licht bleibt an, das Spiel beginnt. Fürst Vincentio überläßt sein Alpenreich für eine Weile dem untadeligen Angelo, auf daß er für ihn die schmutzige Arbeit des Gesetzes übernehme. Wie, so fragt sich der Fürst, ändert sich der Mensch mit der Macht? Er wird kälter.

Während leise Schnee von der Decke rieselt, hinterbringt die alte Vettel Madame Moulue den Untertanen die Nachricht, Angelo habe ein uraltes Gesetz ausgegraben, um die Schwängerung der zarten Jungfrau Juliette durch den leidenschaftlichen Claudio zu ahnden. Dabei liebten sich die beiden. Die Untertanen, ein fröhlicher Haufen von Lebemännern, sind leicht irritiert, zumal Angelo auch die Freudenhäuser der Stadt schließen läßt.

Herrscher Angelo (André Marcon, der Danton von Grüber) ist dabei kein geiler Bösewicht, sondern ein Mann des Gesetzes, ein Skrupulöser, kein Skrupelloser. „Das Gesetz hält uns alle gefangen“, sagt er, und Zadek läßt ein riesiges Schwert durchs Stück bugsieren, um zu zeigen, was gemeint ist. Wenn Angelo der Novizin Isabella den furchtbaren Antrag macht, ihre Jungfräulichkeit gegen das Leben des Bruders Claudio einzutauschen, so wirkt es bei Zadek wie das Gedankenspiel eines Ratlosen: wäre es nicht ein gerechter Tausch, sich als Retterin der gleichen Schande auszusetzen?

Isabella lehnt ab — keineswegs schockiert. Sie ist eine Nonne, die zwischen Himmel und Erde sehr wohl zu unterscheiden weiß. Sie achtet mehr auf ihre eleganten Schuhe, als auf das Gebetsbuch, das auch prompt zu Boden fällt. Keine zarte Spitzenklöpplerin ist da zu sehen, keine Lulu, sondern eine junge Frau mir resolutem Zeigefinger, deren praktischer Verstand kein männliches Prinzip akzeptiert, sei es die Klosterordnung oder sei es die Ordnung im Alpenstaat. Wenn Angelo „Gesetz“ sagt, antwortet Isabelle „Mitleid“. Aus der Haut fährt sie erst, als auch Bruder Claudio ihr zu dem Pakt rät: „Dann stirb, je eher desto besser.“

Um die beiden kreist der Fürst, für Zadek „eine Mischung aus Moral und Voyeurismus“, die ihn fasziniert (Francois Mathourets sehr klasisches Spiel läßt die perfide Seite dieser Drahtzieherei allerdings nicht deutlich genug werden). In einer Mönchskutte verborgen, inszeniert der Fürst eine ebenso kluge wie komplizierte Verwechslungsgeschichte, die letztlich jede Person an ihren Platz im fürstlichen Heilsplan stellt.

Die schöne Isabelle natürlich dem Fürsten zur Seite. Die scheinbare Tragödie wandelt sich in letzter Minute noch zur Komödie, die im zweiten Akt sommerlich ergrünten Alpen Grützkes hatten uns da schon vorgewarnt. Das Abonnements-Publikum an diesem Sonntag nachmittag war leicht düpiert, ein Pissoir auf der Bühne zu sehen, und wußte auch die Alpen- und Lumpenästhetik nicht zu goutieren. Und so sparte es mit Applaus. Ein Kompliment an Zadeks Sinn für zarte Provokationen.

Alexander Smoltczyk

William Shakespeare: Maß für Maß . Regie: Peter Zadek. Bühne: Johannes Grützke. Mit Isabelle Huppert, André Marcon, Heinz Schubert, Francois Mathouret. ThéÛtre de l' Europe — Odéon, Paris. Bis 27. März, anschließend Gastspiele in Clermont-Ferrand und Lausanne (April/ Mai).