Heile, heile Schwänchen

■ 250 qm Kunst für 48 Kinder im Heim

Auf der vormittäglichen Pressebesichtigung eines neuen Wandbildes im Kinder- und Jugendheim »Haus am Fichtenberg« vermißten die Fotografen die Kinder, die um diese Zeit in der Schule lernten, statt als Statisten den von Peter Rattey mit farbigen organischen Phantasien ausgestatteten Treppenaufgang zu beleben. Die anstehende Renovierung des Treppenhauses nahm Heimleiter Martin Wurzel zum Anlaß, über eine künstlerische Gestaltung des bis dahin immer nur als toten Durchgang erlebten Raumes nachzudenken. Die Kunst sollte den Kindern zum Geschenk gemacht werden, um ihnen gegen ihr Stigma der Benachteiligung und des Gestörtseins das Gefühl eigenen Werts zu vermitteln.

Gewonnen wurde für das Projekt der Ostberliner Maler Peter Rattey. Gleichzeitig zur Fertigstellung des Treppenhauses zeigt er im Heim Grafiken und Aquarelle, in denen er die Natur als beseelte und leidende Materie darstellt. Gequälte Wurzelgesichter schreien auf, junge Vögel im »letzten Nest« recken in Aufbringung aller Lebensenergie ihre Hälse. Jede Linie wird zum vibrierenden Nerv; für den Schmerz entschädigen die zarten Farbtöne, entfernte Resonanzen gewagter Kombinationen in rosa, lila, hellgrün und organge. Der surreal übersteigerte und gutgemeinte Kitsch versichert sich in der Anklage der Entwürdigung der Natur des Mitgefühls des sozial und ökologisch engagierten Betrachters, der sich nicht mit kleinlichem Mäkeln an den manirierten Formen abgeben will.

Für das Heim entschied sich Rattey gegen die bedrohliche Ansicht der terrorisierten Natur für ein die Lebenslust anspornendes Epos ihrer kreativen Kräfte. Den Kindern und Jugendlichen aller Altersstufen, deren Vorräte an Phantasie oft genug schon von den eigenen Problemen angegriffen und aufgefressen werden, verordnete man therapeutisch eine heile Welt, deren Wachstumskräfte ihren Mut stärken sollen. Aus dem Grün und Blau ranken stilisierte Formen von Pflanzen, Wellen, Wolken und Lebewesen nach oben; wie in ein Aquarium kann man in blaugrüne Winkel tauchen, die vorher als öde Ecken gähnten. Explosive Farbstrudel verweisen auf die schöpferischen Kräfte des Universums. Plastische Elemente deuten Borke oder Fels an und beschwören rührend die Verzauberung des Flurs in eine Höhle, die nur ganz starken Magiern unter den Kindern gelingen wird. Höhepunkt ist zweifellos der stolze Schwan im letzten Stockwerk, zwischen dessen Flügeln gut ein paar Knirpse Platz hätten, um wie einst Nils Holgerson ihre Flucht aus dem Heim zu starten.

Rattey brachte unregelmäßige Rahmen und Vitrinen an den Wänden an, kleine abgesteckte Reservate, die die Kinder selbst füllen und als Patchwork einfügen konnten. Da tummeln sich kleine Hasen und Elefanten aus Ton geknetet niedlichst zwischen gesammelten Gräsern, Blumenvasen und Herzchen: kleine Altäre des Wehs nach einem gemütlichen Heim. Für ein Arbeiten in größeren Formaten und eine langfristige Beteiligung an der Wandgestaltung hätte den meist stark belasteten Kindern angeblich Energie und Geduld gefehlt. Jetzt zeigen sie den Besuchern stolz »ihr Bild«, so berichten die Mitarbeiter; ruhiger sei es seitdem in dem sonst nur durcheilten Flur geworden, der jetzt mit Muße von den Kindern erlebt wird. Katrin Bettina Müller