Weißer Regen

■ Carlotta Ikeda tanzte auf den »Off Stage Days« des Theaterhauses

Zu den derzeit laufenden Off Stage Days, einem Theatertreffen mit Gastspielen, Künstlerporträts, Seminaren und Werkstattaufführungen, hatte das Theaterhaus mit der japanischen Butoh- Tänzerin Carlotta Ikeda eine Grenzgängerin zwischen narrativer und abstrakter, dramatischer und meditativer Kunst eingeladen.

Nach dem Abwurf der Atombombe und dem nachfolgenden Kulturschock der Amerikanisierung entwickelten japanische Tänzer den Butoh-Tanz, der eine andere Zeitrechnung aufmachte und zurück zu den Anfängen des Menschseins kehrte. Auf die Zerstörung der Werte japanischer Traditionen antwortete er mit einer neuen Archaik; diesem zweiten Schamanentum gehört Carlotta Ikeda seit über 20 Jahren an.

1981 choreographierte sie gemeinsam mit Ko Murobushi »Utt«, eine Soloperformance über verschiedene Erscheinungsformen des Lebens. Sie beginnt mit Bildern des Menschen vor seinem Eintritt in die Geschichte, zeichnet laufend, zusammengesunken oder mit in den Kopf gelegten Nacken aufgereckt, ein von Energie durchströmtes Leben nach, das seine Artikulationsformen noch nicht beschlossen hat. Mal wird die Hand, mal der Fuß oder die über den Boden schleifende Haarmähne zum beredsten Instrument des Körpers. Ob getriebener Dämon oder selbstbestimmter Mensch, ist offen: Da zischt aus ihrem weißgeschminkten Gesicht rot die Zunge hervor, leckt verzückt im Nichts. Mit dieser begehrlichen Geste erfolgt der Sündenfall, das von sich selbst noch nichts wissende Leben berührt die Außenwelt. Zwei weiße Wände öffnen sich im Bühnenhintergrund und verschlucken die aufschreiende Tänzerin.

Wenn sich die Wände, über die bedrohlich wachsende Schatten glitten, wieder öffnen, sitzt Ikeda unter einem Baldachin, den Kopf mit Spiegeln und Ästen gerüstet, den Körper mit Lumpen gepanzert. Zu dramatisch sich steigernder Musik reckt sie Arme und Beine aus der zur Unbeweglichkeit verschnürten Körpermitte: Das sind zugleich die Gesten des befehlenden Herrschers und des exerzierenden Soldaten. In das Bild der alten Feudalmacht auf ihrem Thron ist das der nicht einmal ihrer eigenen Glieder mächtigen Marionette eingepackt.

Der Insignien entledigt, steigt Ikeda in einen anderen Rhythmus um. Ihre Schultern und ihr Becken durchzuckt der Beat, mit aneinandergepreßten Knien und auswärts gestellten Füßen schwenkt sie den Kopf und markiert kokett das Schießen mit dem Gewehr. Scheinbar komisch kommt diese Körpergroteske über die amerikanisierten Formen jugendlicher Rebellion daher. Doch die Komik erweist sich als disharmonische Störung, als Trennung vom eigenen Atem.

Erst im letzten Bild, ihrem beinahe nackten Eingang in die Materie, kehrt sie zu sich selbst zurück. Ihr Atem zieht den Bauch nach innen und ihr Nabel saugt die ganze Welt ein. Von der Decke regnet es weißes Salz, der Boden leuchtet in Wellen gerippt wie der Meeresboden. Den lichterfüllten Strahlen gibt sie sich ohne Widerstand preis. Sie gehört sich selbst im Moment der Aufgabe.

Der weiße Regen, dessen akustisch verstärktes Rieseln von einem Requiem abgelöst wird, scheint ein sakral erhöhtes Gegenbild zum schwarzen Regen zu entwerfen, der Chiffre für den radioaktiven Fallout, der die Verkehrung der Materie und das Ende ihrer Beherrschbarkeit zeigte. Im Eingehen in den weißen Regen schwingt dagegen der Trost eines neuen Geborgenseins mit. Dunkelheit und Licht wechseln auf der Bühne ab; Bilder vom Lebensanfang und -ende verschmelzen.

Fast könnte man meinen, »Utt« erzähle die Geschichte des Butoh selbst, wenn den Bildern der starren Macht der japanischen Tradition und der vergeblich verschleuderten Energie der westlichen Kultur die Suche nach Kraft in der meditativen Versenkung folgt. Katrin Bettina Müller

Die Gastspielreihe der Off Stage Days setzen fort: Bazon Brock »Einer für Alle: Selbsterregung der Täter — eine rhetorische Oper zur Erzwingung der Gefühle« am 5. März; Elsa Wolliaston »Sieben Rosen für drei« 8. bis 10. März, jeweils um 21.00 Uhr im Max-Beckmann-Saal, Luxemburger Straße 20, W-1000 Berlin 65.