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Moderne „Hexenjagd“ an der Grenze

■ Grenzschutz ließ Frauen zwangsweise auf möglichen Schwangerschaftsabbruch untersuchen/ Innenministerium dementiert mit einem „jein“/ Politiker sämtlicher Parteien fordern Aufklärung

Bonn /Berlin (dpa/taz) — Erheblichen politischen Wirbel und große Empörung haben am Wochenende Berichte ausgelöst, nach denen Grenzschutzbeamte westdeutsche Frauen bei der Rückreise aus Holland zum Nachweis von Schwangerschaftsabbrüchen zwangsuntersuchen lassen. „Der Spiegel“ hatte berichtet, an der nordrhein-westfälischen Grenze seien wiederholt Frauen unter dem Verdacht, in den Niederlanden abgetrieben zu haben, festgehalten worden. Manche Verdächtige seien gezwungen worden, sich gynäkologisch untersuchen zu lassen. Das Magazin führt den Fall einer jungen Frau aus Süddeutschland an, die zwangsweise in einem Krankenhaus in Gronau untersucht worden sei.Dies sei kein Einzelfall , schreibt der Spiegel, und beruft sich dabei auf eine Untersuchung des Freiburger Max-Planck-Instituts für internationales Strafrecht, das in einer Studie von jährlich rund zehn Fällen spricht, in denen der Grenzschutz wegen möglicher Abtreibungsdelikte in Aktion trete.

Der Sprecher des Bundesinnenministeriums Bachmeier erklärte zwar, die Behauptungen des 'Spiegel‘ entbehrten jeder Grundlage. Er räumte jedoch gleichzeitig ein, in den vergangenen zehn Jahren seien nach Angaben der Grenzschutzstellen der Justiz etwa zehn Verdachtsfälle von strafbaren Schwangerschaftsabbrüchen gemeldet worden. Dabei habe es sich stets um Fälle gehandelt, „in denen die Betroffenen bei der Einreise einen Schwangerschaftsabbruch offenbart hatten“. Danach hätten die Beamten nach dem Gesetz zwingend die Staatsanwaltschaft einzuschalten, die im Zuge der Ermittlungen auch eine ärztliche Untersuchung anordnen könne. Warum die Frauen in einem Europa der offenen Grenzen überhaupt von den Grenzbeamten nach einem möglichen Schwangerschaftsabbruch gefragt wurden, und aufgrund welcher polizeilicher Maßnahmen sie in Verdacht geraten waren, erklärte der Ministeriumssprecher nicht.

Unterdessen bestätigte der Amtsarzt Gerhard Ettlinger (Borken) gegenüber der „Bild am Sonntag“, daß deutsche Frauen an der Grenze auf Abtreibungen untersucht würden. Die Zahl der Fälle sei allerdings in den vergangenen Jahren zurückgegangen. In Bonn stießen die Berichte über die Kontrollen und Zwangsuntersuchungen auf einhellige Empörung. Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth (CDU) erklärte, die Berichte belegten erneut, „wie wenig das Strafrecht geeignet ist, das Problem des Schwangerschaftsabbruches zu bewältigen“. Die Vorsitzende der Frauengruppe der Unionsfraktion Ursula Männle und der stellvertretende FDP-Vorsitzende Gerhart Baum sprachen von einer „Jagd auf Frauen“. Wilfried Penner (SPD) und Wolfgang Lüder (FDP) verlangten eine Aufklärung über diese Abtreibungsfahndung im Innenausschuß des Bundestages. Die Abgeordnete Christina Schenk vom Bündnis 90/ Grüne meinte: „Die Hexenjagd gegen Frauen wegen des Verdachts einer Abtreibung treibt immer makabrere Blüten.“ Der FDP- Rechtsexperte Heinz Lanfermann kündigte am Sonntag an, Justizminister Krumsiek solle dazu am Mittwoch vor dem Rechtsausschuß des nordrhein-westfälischen Landtags Auskunft geben.

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