Bagdad kehrt zur Normalität zurück
: Freude und Ressentiments beherrschen Irak

■ Die Bevölkerung der irakischen Hauptstadt genoß das erste Wochenende nach Verkündung der Waffenruhe. Während sich die militärische Führung an geheimem Ort mit der Generalität der Alliierten traf, kursierten die ersten Gerüchte über Proteste gegen das Saddam-Regime.

Bagdads Bevölkerung genießt an diesem Wochenende den Frieden — zum ersten mal seit Verkündung der Feuerpause. Die Stadt kann einmal tief durchatmen, die Straßen sind belebt, in allen Teilen der Stadt haben die Läden ausnahmslos geöffnet. Familien machen sich auf zum ersten unbeschwerten Spaziergang seit Wochen am Ufer des Tigris. Frauen und Mädchen haben ihre schönsten Gewänder aus dem Schrank geholt und erstmals auch wieder Schminke aufgelegt. Die Jungs spielen Fußball in den verwinkelten Gassen des Zentrums. Langsam füllen sich auch die Teehäuser, die Männer geben sich dem Genuß ihrer Wasserpfeifen hin und schlürfen den starken süßen Tee.

Sogar die Kinofreunde kommen auf ihre Kosten: Mit Hilfe eines Dieselgenerators zeigt das Lichtspielhaus „Sindbad“ den uralten Indianerfilm Der Weise. Kaum freie Plätze auch in den Fischrestaurants von Bagdads Renommierstraße Abu-Nawas; in vielen Vierteln der Hauptstadt heißt man den Rauch von gebratenem Fisch und Fleisch willkommen, der an die Stelle des Rauchs alliierter Dauerbombardements getreten ist. Bagdad genießt die wiedergewonnene Normalität.

Das ist aber nur die eine Seite der Wirklichkeit einer Stadt im Ausnahmezustand. „Wo ist der Präsident? Ich möchte ihm sagen, daß sie mir kein Brot mehr geben“, schreit eine etwa 70jährige Frau empört auf dem Markt von Khadimya, einem Vorort von Bagdad. „Sie sagten mir, im nächsten Monat würden sie mir Mehl geben, aber was soll ich denn bis dahin essen? Ich bin alt und allein, mein Sohn, der sich um mich kümmerte, ist im Krieg gefallen.“ Als ich den Kebab-Verkäufer bitte, ihr eine Portion zu geben, explodiert die alte Frau förmlich vor Wut: „Nein, ich bin keine Bettlerin, O Gott, mein armer Sohn, nur wegen Kuwait haben wir kein Brot. Ich will den Präsident sehen...“ Das Angebot ist zwar reichlich — Gemüse, Obst, Fleisch, Fisch und Huhn, alles ist zu haben auf dem Markt — , häufig jedoch übersteigen die Preise den Möglichkeiten der Kunden. Die Blockade und der Krieg haben die Leute in den vergangenen Monaten um ihre letzten Reserven gebracht. Seit einer Woche ist die Zuteilung von Brot auf Lebensmittelmarken eingestellt. Dafür gibts jetzt Mehl — wie es heißt, haben die staatlichen Bäckereien kaum noch welches. Auch hat die Regierung den Brotpreis freigegeben, die privaten Bäckereien bieten einen kleinen Laib Brot jetzt zum Preis von einem halben Dinar an — das entspricht etwa zehn Prozent des täglichen Einkommens eines Arbeiters oder Angestellten.

Nach dem Ende des Krieges versucht die Führung, das öffentliche Leben so schnell wie möglich wieder zu normalisieren. In einigen Regierungsbezirken konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Auch der Schulunterricht wurde bereits wieder aufgenommen. In einer am Samstag über den Rundfunk verbreiteten Erklärung hieß es, die Regierung habe zwar Verständnis für die Freude in der Bevölkerung, der Gebrauch von Schußwaffen jedoch sei ab sofort verboten. Immer wieder feuern Zivilisten und Soldaten Freudensalven in die Luft.

Seit dem „Frieden“ kursieren die ersten Berichte über den Krieg in der Hauptstadt, Soldaten kehren nach Hause zurück, und mit ihnen kommen die Erkenntnisse über das, was in Kuwait geschah. Die Familien erhalten Nachricht über das Schicksal ihrer Söhne, viele betrachten sie als Märtyrer. Manche wissen bisher nichts über den Verbleib ihrer Angehörigen. „Drei meiner Kinder sind nach Kuwait abkommandiert worden, der jüngste ist erst 19. Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört“, sagt mir Hassan. „Warum haben sie den Rückzug nicht früher beschlossen, vor dem Bodenkrieg. Wir hätten das Leben so vieler unserer Kinder retten können, erzählt er und wendet sich schluchzend ab.

„Sie wollen das politische System hier ändern, das Saddam-Regime stürzen, diese Amerikaner“, weiß der 26jährige Mohamed, der zur Zeit an der wirtschaftlichen Fakultät der Universität von Bagdad promoviert. Er wurde 1984 im Krieg gegen den Iran verletzt und damit vom Kriegsdienst freigestellt. „Und nicht nur das, sie wollen die politische Karte dieser Region gänzlich neu gestalten. Ein starkes Irak steht diesen Plänen im Wege. Kuwait war eine Falle, und wir sind hineingetappt. Sicherlich haben viele Iraker ihre Zweifel am Regime von Saddam Hussein, sympathisieren mit der Möglichkeit, jetzt den Präsidenten und seine Leute zu entmachten. Aber viele haben Angst vor der Zukunft. Wir haben zwar diesen Krieg verloren, aber wir werden niemals ein System akzeptieren, das mit Panzern daherkommt. Panzer und Flugzeuge bringen keine Demokratie.“

Mohamed ist enttäuscht auch über die westlichen Verbündeten. Für ihn stellten sie immer eine Art Symbol für die Freiheit dar, für Freiheiten, die es in seinem Land nicht gibt. „Wie könnte ich jetzt Vertrauen haben, nachdem sie mein Land zerstört und soviele von uns umgebracht haben. Sie müssen die Region so schnell wie möglich verlassen, ganze Wellen von Radikalismus und Fundamentalismus könnten sonst den Mittleren Osten in naher Zukunft beherrschen“, so sein finsteres Szenario. Die Angst ist größer geworden, seitdem die alliierten Truppen große Gebiete im irakischen Süden besetzt halten. Für viele Iraker ist diese Besetzung das Signal, daß sie sich auf einen längeren Kriegszustand einstellen, daß sie noch mehr Verluste werden hinnehmen müssen. Sie betrachten sich als die einzigen Opfer dieses Krieges. Khalil Abied, Bagdad