„Ich hatte nie eine Chance“

■ Wiederholungstat fünf Tage nach der Freilassung aus zwölf Jahren Knast

Der Angeklagte Helmut M. (33 Jahre) ist wie erstarrt, als er das Urteil hört. Sein knochiges Gesicht wird noch fahler, der Mund zu einem schmalen Strich. Zwei Jahre und sechs Monate lautet der Richterspruch wegen Raubüberfall und Erpressung, den die Große Strafkammer gestern verkündet.

Am 4. September 1990 hatte Helmut M. die Inhaberin eines Tabakwarengeschäftes im Fedelhören mit einer ungeladenen Gaspistole bedroht und 481 Mark aus der Kasse entwendet. Ein Bekannter, Heinz L., stand derweil an der nächsten Straßenecke Schmiere. Dessen Strafe, ein Jahr und neun Monate wegen Beihilfe, wird aufgrund einer Drogentherapie vorerst zurückgestellt.

Bis zum Prozeßende hatte Helmut M. wegen seines Geständnisses auf eine „echte Chance“ gehofft, um noch einmal von vorne zu beginnen. „Für mich ist das das Ende, da komme ich doch nie wieder raus“, stammelt er zwischen den Zähnen. „Noch zwei Jahre Psychoterror, die wollen mir einfach keine Chance geben.“ Er weint leise und flucht vor sich hin. Sein Verteidiger Wilfried Behrendt nimmt ihn in den Arm und versucht zu beruhigen. „Man muß sich natürlich die Frage stellen, ob dem Angeklagten und der Gesellschaft nach all dem, was der bis jetzt erlebt hat, mit diesem Urteilsspruch gedient ist“, sagt er nach der Verhandlung. „Irgendwann ist Schluß und die Kraft zum Neuanfang ist ganz einfach futsch.“

Fast die Hälfte seines bisherigen Lebens hat Helmut M. in verschiedenen Haftanstalten verbracht. Dort war er wochenlang unter Verschluß, wurde heroinsüchtig und hatte wiederholt Auseinandersetzungen mit den Aufsehern, weil er sich nicht unterordnen wollte. Kaum sechs Monate war er in den letzten 15 Jahren auf freiem Fuß. Seine Vergehen: Eine Reihe von unterschiedlich schweren Diebstählen, Raubüberfällen, Körperverletzung, Alkohol am Steuer, Fahren ohne Führerschein und Meuterei im Gefängnis.

Als er das letzte Mal am 30.8.1990 aus der Haftanstalt in Lingen entlassen wurde, hatte er genau 210 Mark Entlassungsgeld in der Tasche und die Zusicherung, für 14 Tage in einem Sozialtherapeutischen Wohnheim unterzukommen. Vor der Entlassung, nach zwölf Jahren Knast am Stück, gab es für Helmut M. eine Woche lang „Entlassungsvorbereitung“ in Einzelgesprächen mit seinem Bewährungshelfer. Für Helmut M. war das „praktisch null Vorbereitung“ auf die Freiheit. Aber danach habe ja keiner gefragt.

„In dem Wohnheim bin ich dann auch nur einen Tag lang geblieben“, erzählt er. „Dort wollten die mir nach zwölf Jahren Knast verklickern, daß ich um 22 Uhr zu Hause sein muß. Da bin ich gleich wieder abgehauen und nach Bremen gefahren, um endlich mal was zu erleben“. Er habe nur einen Gedanken gehabt: Frei sein. Aber dann sei er mit der ganzen Situation überhaupt nicht fertig geworden und wieder voll reingerutscht, als er nach einigen Tagen kein Geld mehr hatte. „Mir hatte ja niemand gezeigt, was ich tun und lassen sollte.“

In dieser Situation traf Helmut M. den drogensüchtigen Bremer Heinz L.. Gemeinsam besorgte man sich „beim Türken“ den nächsten Schuß. „Danach bin ich einfach so durch die Straßen gegangen und wußte nicht wohin“, erinnert sich Helmut M. jetzt vor Gericht. Plötzlich habe er vor dem Tabakladen gestanden und beschlossen, sich das Geld zu holen. „An alle Einzelheiten kann ich mich wegen dem Heroin aber nicht mehr erinnern“, ergänzte er.

Sonja F., Eigentümerin des Tabakladens, hat erstaunlich viel Verständnis für die Situation des Verurteilten. „Es wird wirklich viel zu wenig getan für diese Menschen“, sagt sie und entschuldigt sich gleich wieder beim Richter. Das sei vielleicht nur ihr sozialer Tick. „Als er da so reinkam mit seiner Sonnenbrille und der Pistole, hat er auf mich nicht den Eindruck eines Kriminellen gemacht. Er sah aus wie einer von vielen, die Drogen nehmen, hochgradig nervös und unsicher.“

Verteidiger Behrendt will sich weiter einsetzen für seinen Mandanten, dafür sorgen, daß er einen Drogen-Therapie-Platz erhält. „Ich habe während der vier Monate, die wir uns kennen, den Eindruck gewonnen, daß Helmut M. sehr ernsthaft über sein Leben reflektiert hat“, sagt Verteidiger Behrendt. Das wichtigst sei, endlich die Verbitterung und Aggressivität, die sich aufgestaut habe, aufzubrechen, damit er überhaupt wieder lebensfähig werde für die Freiheit. „Das erreicht man allerdings nicht mit neuen Strafen.“

Birgit Ziegenhagen