Wenn Sauen blaue Ohre kriegen...

■ ...ist für ZüchterInnen höchste Alarmstufe: 1.700 Höfe in NRW von der neuen Schweineseuche befallen

„Habt ihr's schon?“ ist seit Wochen die häufigste Frage unter SauenhalterInnen. Und die Nachricht, „die haben's“, löst überall eine ähnliche Reaktion aus: ein resigniertes „Aha, die also auch“ oder nur noch ein langgezogenes „Tjaa“. „Schützen dagegen kann sich keiner“, sagt Günther Völker, Schweinezüchter im westfälischen Rheda. Er hat's noch nicht. Aber Bernhard Finke hat's. 200 Sauen stehen in seinen Ställen, die Arbeit teilt er sich mit seiner Frau. „Mit gesunden Tieren zu arbeiten macht Spaß“, sagt Finke bei einem Schweinezüchterseminar bei Borken. „Aber das jetzt. Man kriegt'n Schreck.“

Seit drei Wochen hatten nun alle Sauen bei Finkes normale Würfe. Der Hof liegt in Heiden, Kreis Borken. Im Münsterland, wo sich die nordrhein-westfälische Schweinehalt konzentriert, wütet die mysteriöse Schweinekrankheit bisher am schlimmsten. Im Rheinland sind es vierzig Höfe, in Ostwestfalen ebenfalls nur einzelne.

Wenn man über die neue Schweineseuche bisher auch wenig weiß, eines ist sicher: Sie breitet sich explosionsartig aus. Allein in den beiden Wochen vom 20. Februar bis heute kamen zu den bereits gesperrten 1.185 Betrieben 500 neue hinzu. Von insgesamt etwa 21.000 Zuchtbetrieben sind in Nordrhein-Westfalen (NRW) inzwischen 1.700 befallen. Aber ob mit den Sperrungen die Ansteckungsgefahr eingedämmt wird, ist fraglich. Denn innerhalb NRWs dürfen die gesperrten Betriebe auch weiterhin mit gesunden Ferkeln handeln. Und gesunde, ausgemästete Schweine kommen, wie gehabt, unters Messer. Die Kreisordnungsämter geben einen Hof wieder frei, wenn der Tierarzt acht Wochen lang keine Krankheitssymptome mehr festgestellt hat.

Die Symptome können inzwischen alle FerkelerzeugerInnen herbeten: Freßunlust bei den Sauen, erhöhte Temperatur, gelegentliche Atemnot und eine Blaufärbung an den Ohren sowie an der Rüsselscheibe genannten Nasensteckdose. Tückischerweise jedoch zeigen die allermeisten Sauen dieses Krankheitsbild gar nicht, sondern gebären ohne Vorwarnung vier bis zwölf Tage zu früh einen Wurf toter, teilweise schon in der Gebärmutter vertrocknete und schwache Ferkel, die bald eingehen. „Man weiß es nicht“, sagt Bernhard Finke, „die eine Sau hat blaue Ohren, kriegt aber gesunde Ferkel. Die daneben, die ganz normal aussieht, verferkelt.“

Dieses eine Symptom, das massenhafte „Verferkeln“, kann enorme Verluste bedeuten und sorgt deshalb unter den SchweinezüchterInnen für größte Unruhe. Wieviele Sauen in einem Bestand von der geheimnisvollen Krankheit befallen werden, kann niemand vorhersagen. Im Durchschnitt jede dritte, doch gibt es Höfe mit 80 Prozent kranken Sauen und solche, auf denen nur jede zehnte verferkelt. Zweimal (statistisch 2,2 Mal) im Jahr wirft die durchschnittliche Rassesau, über zehn Ferkel pro Niederkunft werden von ihr erwartet. Ein 20-Kilogramm-Ferkel könne er derzeit für knapp 100 DM verkaufen, meint Finke. Die Ferkelpreise sind im Vergleich zur zweiten Hälfte des Vorjahres bereits deutlich angestiegen.

Liegen fünf, acht oder gar alle Ferkel tot neben der Sau, ist das Geld futsch. In Nordrhein-Westfalen zahlen das Land und die bäuerliche Tierseuchenkasse pro Fehlwurf 250 DM und damit durchschnittlich etwa ein Drittel des tatsächlichen, finanziellen Verlusts. Daß die Seuchenkasse zum ersten Mal für eine Krankheit einsteht, „die es offiziell gar nicht gibt“, wie Werner Zwingmann aus dem Landwirtschaftsministerium feststellt, hatte in NRW vor allem den Grund, die BäuerInnen zu bewegen, die desaströsen Vorgänge in ihren Ställen bei den Veterinärämtern zu melden.

Als nämlich das Sauen- und Ferkelsiechtum im November letzten Jahres zuerst im westlichen Münsterland auffiel, war die neue Krankheit weder anzeige- noch meldepflichtig. Erst in dieser Woche wird im 'Bundesanzeiger‘ eine Notverordnung veröffentlicht, die alle SchweinehalterInnen verpflichtet, massenhaft verferkelnde Sauen zu melden. Dr. Hermann Nienhoff vom Institut für Tiergesundheit der Landwirtschaftskammer Westfalen-Lippe wies Anfang des Jahres darauf hin, daß wahrscheinlich bereits Mitte letzten Jahres diese neue Seuche in einzelnen Ställen aufgetreten, aber nicht erkannt worden sei. Denn zu früh, tot oder als Schwächlinge geborene Ferkel gehören in den riesigen, künstlich belüfteten und durchrationalisierten Zuchtsauenställen zum Betriebsablauf, wie der Pflug zum Ackerbau.

In den USA sucht man seit drei Jahren ohne Ergebnis nach dem Erreger der „Mysterious Pig Disease“. In der Bundesrepublik arbeitet jetzt ein Forschungsverbund aus öffentlichen und privaten virologischen Instituten, Veterinärämtern und dem Institut für Epizootiologie und Tierseuchenbekämpfung in Wusterhausen (Brandenburg) zusammen, das vor allem die Ausbreitung der Seuche untersucht. Auf die Frage nach dem Erreger, antworten die WissenschaftlerInnen, man kenne ihn nicht, man wolle nicht spekulieren, und die Versuche nähmen noch Wochen, womöglich Monate in Anspruch. Ziemlich schnell hatte man in Laboruntersuchungen bekannte Schweinekrankheiten, wie die Schweinepest, Influenza, die Aujeszkysche Krankheit und Parvovirose (SMEDI) ausgeschlossen.

„Nervös“ geworden sei man lediglich Anfang Januar, gibt der Virologe und Tierseuchenexperte im Bundesgesundheitsamt, Wolfgang Mields, zu, als sich eine Weile der Verdacht auf EMC (Encephalomyocarditis) verstärkte, eine bisher in England und Amerika verbreitete Gehirn- und Herzmuskelerkrankung, deren Virus sich auf Menschen übertragen kann. Doch auch EMC schließt man inzwischen aus.

In den Instituten frage man sich, so Professor Ahl von der Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere in Tübingen, „ob wir es wirklich mit einer neuen Krankheit zu tun haben oder ob eine bekannte sich gewandelt oder an Aggressivität zugenommen hat“. Vermutlich infizierten sich die Sauen in einem frühen Stadium der Trächtigkeit, die Fehl- und Totgeburten seien die späte Folge. Unklar ist wiederum, ob einmal infizierte Sauen sich gegen den Erreger immunisieren. Einige wenige Sauen in befallenen Beständen haben nach dem Verferkeln wieder gesunde Ferkel geworfen. Man habe die Hoffnung, so Mields, daß das Immunsystem der Schweine in Zukunft mit dem Virus fertigwerde, wie die Seehunde nach dem großen Sterben in der Nordsee vor zwei Jahren. In Ställen und Labors wartet man derzeit auf die zweiten Würfe jener Sauen, die im letzten Winter verferkelten. Zur Erinnerung: Sauen tragen drei Monate, drei Wochen und drei Tage.

Lediglich über die Ansteckungswege werden bisher einige Erkenntnisse gehandelt: Durch einfachen Kontakt mit verseuchten Schweinen oder ihren Ausscheidungen können sich gesunde Tiere anstecken. Aber auch in den Ställen oder auf dem Viehanhänger scheint der Erreger überdauern zu können. Andererseits haben auch Höfe die Seuche, die seit Jahren keinen Tieraustausch hatten, das deutet auf eine Übertragung durch die Luft. Ob Menschen den Erreger herumschleppen können, ist ebensowenig bekannt wie die Rolle, die das Sperma der Zuchteber, vergiftetes Futter oder toxische Impfstoffe spielen könnten.

Seit Montag sind EG-Bestimmungen für Deutschland und die Niederlande in Kraft, nach denen keine Zucht- und Mastschweine aus Gemeinden in den befallenen Landkreisen mehr in andere EG-Länder gebracht werden dürfen. Viele SchweinehalterInnen bangen aber nicht nur wegen realer Verluste und Verkaufsschwierigkeiten um ihre Existenz, sondern fürchten fast noch mehr die Negativmeldungen über ihren Berufsstand.

„Wenn die Bauern früher Krankheiten auf dem Hof hatten, war das ihr Problem“, sagt Ulrike Völker, die sich in der Bauernopposition engagiert. „Heute ist die Öffentlichkeit sensibilisiert, und die Bauern fragen natürlich: Was nützt uns das?“ Um nicht aufgeben zu müssen, seien die meisten Landwirte in die Massentierhaltung eingestiegen, „eine Haltungsform, die ihnen durch die EG- Agrarpolitik aufgezwungen wurde“. Nun schlügen sie sich mit immer mehr Krankheiten herum. Ulrike Völker kennt den Stallalltag: „Wenn man denkt, man hat eine Krankheit im Griff, kommt die nächste.“

Zahlreiche Impfungen der überdies zu reinen Gebärmaschinen hochgezüchteten Sauen, argumentieren auch kritische Tierärzte, brächten ihr Immunsystem durcheinander und machten sie anfällig. „Die Massentierhaltung sucht sich ihre Krankheiten“, kommentiert Norbert Roers von der kritischen Veterinärzeitung 'Veto‘ die neue Schweineseuche.

Von einer „Seuche“, bitten dagegen die SchweinezüchterInnen auf dem Borkener Seminar, möge man nicht sprechen, „besser von der unbekannten Schweinekrankheit“. „Wenn der Erreger erst gefunden ist“, meint Bernhard Finke, „können wir aufatmen.“ Dann werde man, so die Hoffnung der Landwirte, auch bald ein Gegenmittel oder einen neuen Impfstoff entwickeln, und das Problem wäre gelöst.

Nur einer, in dessen Ställen die Krankheit ebenso wütet, glaubt derzeit auch, ihre Ursache gefunden zu haben: der Kerkener Sauenhalter Friedhelm Deselaers. Da er seine Erkenntnisse den WissenschaftlerInnen nicht mitteilen wollte, warf ihm das Landwirtschaftsministerium in NRW vor, „verantwortungslos und unkollegial“ zu handeln. Eine Million Mark habe der Mann für die Preisgabe seines Geheimnisses verlangt. Deselaers hingegen behauptet, er wolle erst Geld, wenn sich seine Theorie bestätige. Hundert Sauen habe er und derzeit „riesige Verluste“. Seit Mitte Februar ist sein Betrieb gesperrt. Kein Medikament, kein Hausmittel — und offenbar auch nicht sein Wissen über die Krankheitsursache — helfen gegen die toten Ferkel im Stall. Kein Zweifel, die Not macht zumindest diesen Schweinezüchter erfinderisch. Bettina Markmeyer