Europa nach dem Regen

Max Ernst in der Tate Gallery in London  ■ Von Lore Kleinert

Europa nach dem Regen, ein Bild, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges entstanden: eine verzweifelte Dschungellandschaft, in der die Überreste einr zerstörten Zivilisation von giftfarbenen Schlieren überwuchert werden. Alles hat sich aufgelöst und ist erneut verschmolzen zu einer schwärenden, vielgestaltigen Form, die alte Bilder hindurchschimmern läßt, modelliert und strukturiert bis zur Unkenntlichkeit. Ist es ein Zufall, daß gerade die Bilder Max Ernsts in eine unbeabsichtigt intensive Beziehung zueinander und zu uns treten, die das Alphabet der Katastrophe buchstabieren, von der fernen Vision bis zum letzten Blick auf erstarrte Wälder unter einer kreisrund gezirkelten fahlen Sonne? Blut fließt nicht auf diesen Bildern; die gestrichelt-zarten roten Linien auf der ersten Fassung von Europa nach dem Regen aus dem Jahre 1933 sind wie mit dem Lineal gezogen, Spuren strategischer Pläne in einer leeren, reingewaschenen Landkartenwelt. Heiter fast sind Ernsts Flugzeugfallen, doch könnte das, was von den Flugzeugen blieb und was sich jetzt fremdartige Blumengestalten einverleiben, auch Gebein sein, in einer Wüste, die nur noch ohne Menschen lebt. Und Ödipus Rex, entstanden 1922, ein dicker, tonnenrunder Metalltorso mit schwarzem Guckloch, er balanciert auf der unendlich instabilen Spitze eines Zirkels und hebt die Hände in einer Gebärde des Schreckens — Menschenhände. Die Geschichten, die in diesen Bildern eingezaubert sind, entstehen erst im Kopf derer, die sie betrachten. Sie sind zu vieldeutig, als daß sie auf einfache, womöglich politische Weise zurückübersetzt werden könnten. Zwar erzählt Max Ernst in seinen Bildern auch von menschlicher Zeit, aber niemals direkt, als Anklage oder Predigt. Er selbst, sagte der Maler, der 1891 geboren wurde, sei am 1. August 1914 gestorben und im November 1918 wiederauferstanden. In seiner rheinischen Heimat, wo er schon vor dem Krieg Maler geworden war, blieb er nicht mehr lange. 1922 verließ er Deutschland endgültig, weil er Drohbriefe bekam, von Menschen, die sich „den Parademarsch nicht nehmen lassen wollten“ (Ernst 1953). Max Ernst zog nach Paris.

Mit den Kölner Dadaisten hatte er die Revolte gegen den Krieg und das verlogene, bildungsbürgerliche Korsett konventioneller Kunst geteilt. In der Collage fand er die Form, um die ganze Welt auseinanderzunehmen und neu zu erschaffen. Durch winzige Veränderungen verwandelte er z.B. Katalogseiten oder Naturkundebücher in phantastische Bilder seiner Halluzinationen: Eislandschaften Eiszapfen und Gesteinsarten des weiblichen Körpers von 1920 besteht aus munteren Gebilden, die an Windrädchen, Chips und Zifferblätter erinnern, mit einander verbunden zu einer Art buntem Schiffchen. Kein weiblicher Körper, aber wenn wir den „Funken Poesie“ zulassen, doch eine Idee davon, in ironischer und ganz unerwarteter Weise, das „Ergebnis systematischer Ausbeutung des Zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene“ (Max Ernst in Entdeckungsfahrten ins Unbewußte). Der Anschluß an die französischen Surrealisten um Bréton und Eluard gab den Entdeckungsfahrten ins Unbewußte wichtige Impulse; der Vorrat an vergrabenen Bildern sollte aufgespürt werden, um mehr sichtbar werden zu lassen, als die Oberfläche erlaubte, und um Grenzen zu erkunden zwischen Innen- und Außenwelt, Traum und Aktion, den Körpern und allem, was sie umgibt. Die Windsbräute von 1927 sind Pferd und Frau und Chimäre — Form und Linie in einem, erstarrt und zugleich in höchster Bewegung, verspielt und berohlich in ihrem ungebärdigen Tanz.

Die Frage, ob es Windsbräute oder Vogeldenkmäler oder Flugzeugfallen wirklich gibt, stellt sich nicht, denn Max Ernst wußte, daß „Träume der ursprüngliche Atem der Wirklichkeit“ sind: „Ich sehe Barbaren mit Blick nach Westen ... Sie haben zu lange im Wald geschlafen. Ich sehe gefräßige Gärten, ihrerseits verschlungen von einer Vegetation, die aus den Trümmern eingefangener Flugzeuge entspringt.“

Daß diese visionäre Hell-Sicht von seinen Zeitgenossen schwer zu ertragen war, verwundert kaum, war doch das Entfesseln der Phantasie schon immer eine der größten Provokationen. Werner Spies' Auswahl und Präsentation in der Londoner Tate Gallery wirkt einem harmlosen und harmonischen Bild Max Ernsts entgegen, indem sie einem unmöglich macht, das Werk des Malers in mehr oder weniger goutierbare Häppchen zu zerlegen. Sie zwingt zu einem umfassenderen Blick. Anders als die Surrealisten um Bréton war Max Ernst nicht bereit, auf die Kontrolle durch die Vernunft zu verzichten, und das hieß, Vernunft neu zu bestimmen. Zwar gewann er Formen und Strukturen aus der Natur, in seinen überlebensgroßen, kosmischen Katastrophen ebenso wie in mikroskopisch kleinen Infrastrukturen, doch das geschah bewußt und immer in gestalterischer Absicht. Halbautomatische Techniken wie die Frottage oder Grattage, die ihn mit seinem Material versorgten, waren kein Selbstzweck, sondern brachten ihn auf Ideen. Die so entstandenen Bilder geben die Genese ihrer Bestandteile preis: Kind, Pferd, Blume und Schlange von 1946 schieben sich zu einer einzigen, mehrfarbigen und höchst unterschiedlich schraffierten Struktur ineinander. Fischgrätenblumen, Lichträder und Schmetterlinge offenbaren ihren gemeinsamen Ursprung im durchgeriebenen und kunstvoll aufgekratzten Muster.

Aber was bedeutet das schon? Sie werden nicht faßbarer, wenn ihre technische Herkunft entschlüsselt ist. Max Ernsts Monstren kommen ebensowenig wie seine zartesten Geschöpfe im Alltagsgewand daher, sondern verlangen dem Auge, dem Denken, der Phantasie Aktivität ab. Die Würde des Auges wiederherzustellen, war die Absicht, die Ernst mit dem Surrealismus verband, und in der Zeit des Videoclips, des im besten Falle selbständig gewordenen Bildes haben seine Bilder nichts von ihrem verstörenden Sog verloren. „Man malt, weil man neugierig ist, und nicht, weil man etwas malen will“ — das verbindet Max Ernst mit unserer Gegenwart zum einen stärker als seine agitatorischen Zeitgenossen. Seine Bilder 'jenseits der Malerei‘ zeigen keine 'andere‘ Welt, obwohl sie die ordnungsgemäße Vernunft verspotten und außer Kraft setzen. In seinen Landschaften gehen Mensch, Wald und Architektur Metamorphosen ein, in denen die Sirenen erwachen, wenn die Vernunft schläft. Zwischen den Polen der Abstraktion und der abbildenden Photographie wollte Max Ernst die ganze Welt als gleichrangiges Material befragen. Anders als die Surrealisten lehnte er es ab, irgendeinen Stil oder ein bestimmtes Thema auszuklammern: er verzichtete auf diesen ausgrenzenden Begriff von Avantgarde. Auch das macht ihn heute spannender als viele andere Maler.

Im Lauf seines Lebens (1891-1976) mußte Ernst auch selbst häufig Grenzen überqueren. Sein Wechsel nach Frankreich, sein Aufenthalt in den USA, nachdem er vor Hitlers Armee aus Frankreich floh, und später die Rückkehr nach Europa (1948 wurde er Amerikaner, 1958 Franzose) — all das führte in seiner Arbeit zu neuen visuellen Zeichen, und doch, das macht diese Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag deutlich, sind alle Elemente seiner Kunst schon früh entwickelt, und sie kehren immer wieder. Wirrwarr, die Muse, die hundertköpfige Schwester, wird ebenso zur Begleiterin durchs Labyrinth wie Loplop, der Vogelmensch, als den sich Max Ernst immer wieder selbst malte. Ein drittes Moment fällt uns heute deutlicher ins Auge: Vögel, schrieb Max Horkheimer, als habe er Ernsts Bilder dabei betrachtet, seien vieldeutige Zeichen. Aus der Sicht des Wurms das fleischgewordene Grauen, und für uns im Frühling Boten der Schönheit und Freiheit — es komme auf die Perspektive an, und die des Menschen sei beschränkt.

Max Ernsts Sicht ist selten nur die des Menschen allein — das Vergnügen der flugzeugfressenden Pflanzen ist unübersehbar, das Bedauern eines blauen Pferdes, nicht zur Dame im Labyrinth vorgelassen zu werden, groß. Ernst schrieb, so sein Freund Gustav Regler, keine Liebesbriefe auf die Natur und keine Haßgesänge, sondern wurde zum Spiegel des Universums, ohne je die eigene Identität einzubüßen. Das bedeutete, nicht nur die Nähe von Schöpfung und Zerstörung auszuhalten, sondern auch sich selbst aus Erinnerungen immer wieder herzustellen und zugleich vorzugreifen auf das, was sein könnte. „Sicherheit lähmt den Künstler“, sagte er zu Zeiten, als die Sicherheit noch größer schien als heute.

In seinen zu erkalteter Materie erstarrten Wäldern und Städten tauchen die zarten Vögel der ironischen Phantasie wieder auf, jedoch nicht mit der großen Geste des genialen Loplop, des Vogel-Obersten, sondern eingesperrt hinter Gittern, mit den melancholischen Linien der Unfreiheit über den Augen. 1973 malte er Einige Tiere, unter ihnen ein analphabetisches — aus dunklem Grund starren gedruckte und geritzte Vogelwesen aus gelben Augenlöchern, eingefangen in einer leeren Welt. Eines von ihnen hat den Schnabel zum Schrei geöffnet. Ist es das ohne Schrift? Ist es das einsamste unter ihnen? Und welchen Wert hatte Sprache und Schrift? Wer sich die Bilder ansieht, in London und danach in Düsseldorf oder Stuttgart, wird keine Antwort finden. Wohl aber eigene Fragen.

Bis 21.4., danach Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen/Düsseldorf und Staatsgalerie/Stuttgart