Walter Ulbrichts späte Rache an West-Berlin

■ Bausenator Nagel trug im »Stadttor« seine Finanznöte vor

Berlin. Gewohnt durchsetzungsentschlossen zeigte sich Bausenator Wolfgang Nagel bei seinem Vortrag im Kreuzberger »Stadttor« am Freitag abend. »Wir brauchen Milliarden für die Sanierung und die Leerstandsbeseitigung in Ost-Berlin, und da liegt es an Ihnen, mir gegenüber dem Senat den Rücken zu stärken«, forderte er die gut zweihundertköpfige Zuhörerschaft aus Ost und West auf und sagte auch gleich wie: »Wenn ich kein Geld für die Sanierung der leerstehenden Häuser bekomme, muß ich Baustellen stillegen, und dann gibt es neue Hausbesetzungen — das hält kein Senat lange durch«, versprach Nagel.

Nagels behutsamer Aufruf zu Hausbesetzungen im Ostteil der Stadt kam nicht grundlos: Allein für die Leerstandsbeseitigung in Ost- Berlin brauche man knapp 700 Millionen Mark, dazu kämen »jährlich« weitere 350 Millionen für die Sanierung der übrigen Altbauten. Noch teurer kommt die Sanierung der riesenhaften Ostberliner Trabantenstädte, nämlich 5,3 Milliarden Mark in den nächsten 10 Jahren, davon allein eine Milliarde für fehlende Schulen, Kindertagesstätten und Grünflächen und weitere Milliarden für die Wärmedämmung und moderne Heizungen. Und die Instandsetzung der rostenden Platten — der größte Posten — wird nur zum Teil auf die Miete umgelegt werden können.

Das fehlende Geld wird wohl oder übel aus dem Westen kommen. »Der alte Wunsch von Walter Ulbricht, West-Berlin in die DDR zu integrieren, geht nun in Erfüllung«, meinte Nagel. Der Etat für die Altbausanierung in West-Berlin wird schon ab 1992 gekürzt, der Standard der Wohnungen heruntergesetzt. Weiter könne man, schlug Nagel vor, die Sozialmieten erhöhen, den Mietausgleich für Sozialmieter — 50 Millionen Mark im Jahr — streichen oder die Mieter von Sozialwohnungen per Mieterdarlehen beleihen. Nagel überlegt sich weiter, Neubauwohnungen schon als Rohbau, aber zum gleichen Preis zu vermieten.

Der Bausenator ist skeptisch, ob der Senat tatsächlich 80.000 bis 100.000 neue Wohnungen in den nächsten fünf Jahren fördern könne, wie versprochen. Dies gehe nur mit »größeren Wohnungsbauflächen«, sprich Trabantenstädten. Platz dafür sei vor allem im Ostteil der Stadt, etwa im Norden Pankows bei Buch, Buchholz und Blankenberg, auf der Straulauer Halbinsel, bei Wartenberg, am Ostkreuz und bei Alt-Glienicke. Da fehle allerdings zum Teil die Kanalisation. Auch die — westlichen — Staakener Felder bei Spandau oder möglichweise die Heiligenseer Felder müssen dran glauben. Selbst Kleingärten und Äcker zu bebauen sei kein Tabu mehr. Für weniger brauchbar hält Nagel die Flächen der Alliierten. So stünde der Flughafen Tempelhof frühestens in zehn Jahren zur Verfügung.

Nicht recht anfreunden kann sich Nagel mit dem geplanten »Stadtforum«, eine Art informelles stadtplanerisches Gremium des Stadtentwicklungssenators Volker Hassemer. Berlin müsse man nicht neu erfinden, Berlin gebe es schon, die noch bestehenden historischen Spuren dürften nicht verwischt werden. Dies sei auch das Interesse der Investoren — Nagel verwehrte sich entrüstet gegen den Begriff »Spekulanten« — die nicht in neuerbaute Bürotürme ziehen wollten, sondern in die Beletagen der Gründerzeit. esch