Der strenge Andy und die narzißtischen Kurzschlüsse

■ »The Andy Warhol Film Project« im Arsenal-Kino

Er, der aussieht wie einer, der aussehen möchte wie James Dean und diesem auch wirklich ähnelt, blinzelt zwischendurch immer mal wieder in die starre, unerbittliche Kamera. Nie gibt es den erlösenden Schwenk hinab, der verraten würde, was unten passiert: Ist dort jemand, der den Blow Job verrichtet — oder nicht? Das Gesicht, von einer grellen Westernsonne im Zenit als lebendige Skulptur beleuchtet, windet sich in Lust und Schmerz nacheinander aus allen vier Rändern des Bildes. Mal zurückgelehnt, einen perfekt modellierten Kinnbereich zeigend, beugt sich »James« mal wieder nach vorn und spielt mit dem Schatten wie mit einem aufreizend-verhüllenden Stoff. Der Kragen seiner schicken Lederjacke erzählt von seinem Leben, von seinem Geschmack und Charakter. Stumm und schwarzweiß zeigt der Film eine Rolle des gedrehten Materials nach der anderen — doch immer dort, wo Blankfilm in Blankfilm übergeht, wird die Antwort verweigert, ob ausgerechnet in den Sekunden, wo man statt seines Gesichtes die weiße Leinwad sieht, er endlich einen Orgasmus hatte — oder war's bloß eine Drehpause? Es sind die Fragen des Porno-Zuschauers, die man in Blow Job stellt. Irritierend jedoch das Tempo: Der Rhythmus des Films richtet sich nämlich einzig nach der vom Filmhersteller vorgegebenen Konfektionierung des Materials — von Büchse zu Büchse. Deswegen wirken die Pausen zwischen den Akten wie eine überaus raffinierte Beleuchtung der narzißtischen Kurzschlüsse im Dreieck Star-Rolle-Zuschauer.

Blow Job aus dem Jahre 1963 ist einer von elf Andy-Warhol-Filmen, die das Arsenal-Kino in Zusammenarbeit mit dem Whitney Museum und dem New Yorker Museum of Modern Art bis Ende März zeigt, darunter Lonsesome Cowboys, Chelsea Girl als Doppelprojektion und ausschnittsweise Sleep und Empire. Warhol hatte vor seinem Tod einer Retrospektive seiner Filme im Whitney Museum zugestimmt, was sich ohne seine Hilfe jedoch als ein kompliziertes Unterfangen darstellte. Zur Überraschung der Nachlaßverwalter gab es nämlich von einzelnen Filmen oft drei oder mehr Versionen, von deren Existenz noch nie jemand etwas gehört hatte. Das »Andy Warhol Film Project« will all diese Filme nun katalogisieren, restaurieren und zugänglich machen, damit »Warhols Bedeutung als Filmemacher anerkannt wird und diese Filme den ihnen zustehenden Platz neben seinen anderen künstlerischen Arbeiten einnehmen« (J.G. Hanhardt, Whitney Museum).

Dieser (posthumen) Wertschätzung steht die landläufige Auffassung entgegen, daß es in vielen Warhol-Filmen zeitlich egal sei, wann man zur Vorstellung kommt und wann man sie wieder verläßt. Selbstvertretend für diese Auffassung sei aus dem Warhol-Artikel in Ephraim Katz' Film-Encyclopedia zitiert: »The director, if there is one, plays the part of an observer with no opinion what goes on in front of the camera and little or no concern about how it is framed, cut, and shown on the film.« (Der Filmemacher — wenn es überhaupt einen gibt — spielt die Rolle eines Beobachters, der keine wirkliche Meinung hat, was vor der Kamera passiert, und den es wenig oder gar nicht interessiert, wie der Bildausschnitt ist, wie der Film geschnitten wird und letztendlich auf der Leinwand erscheint.) Vor allem Warhols dokumentarische Filme provozieren tatsächlich den Eindruck von Beliebigkeit, zumindest, wenn man nicht lange genug bleibt, um die scheinbare Zufälligkeit als eine extreme Form von Unaufdringlichkeit seiner strengen Konzeptionen zu entdecken. Kiss, ebenfalls aus dem Jahre 1963, ist ein Beispiel dafür: verschiedene Paare küssen sich, pro Paar etwa vier Minuten lang. Warhol dokumentiert dieses Ritual menschlichen Liebesgebarens mit der Distanz eines Tierfilmers und der Genauigkeit eines Anatomie-Spezialisten, wobei er die Besonderheit der individuellen Kußstile aus unterschiedlicher Perspektive dokumentiert. Saugend, nervös, pubertär, reif, herausfordernd, verschmitzt, ungeduldig, in sachlichem Schwarzweiß und ohne Ton. Die Schauspieler/Beobachtungsobjekte werden durch jeweils minimale Attribute zu Individuen, sei es durch die Nickelbrille, das Leopardenfell, den Haarreif, den bestickten Blusenärmel, Koteletten — oder, bei den Männern häufig: das gestreifte Oberhemd. Es ist der zur Spielfilmlänge gedehnte Moment, um den es auch im Hollywoodfilm meistens geht, der dort aber immer zu kurz ist, um den Zuschauer/Voyeur wirklich zu befriedigen.

Wenn Warhol diese Szene in Kiss zum einzigen und Hauptmotiv werden läßt, ist dies ein kluger, filmtheoretischer Beitrag zur Narration des Spielfilms, in seiner Struktur fern jeder Beliebigkeit.

My hustler (1965) ist einer von Warhols Spielfilmen: Ein reicher New Yorker hat sich über den Telefonservice »Dial-a-hustler« einen blonden Stricher vom Typ Bademeister, wie er sportlicher auf keinem Dial-Plakat zu sehen ist, in sein Wochenendhaus kommen lassen. Als »sunny himself« vor der Veranda seines Klienten liegt, Stöckchen schnitzt und mit seinem Dolch die auf ihm gelandeten Strandfliegen verjagt, reagieren die Nachbarn, wie es von ihnen erwartet wurde: sie Kommen auf die Veranda, von wo aus sich der Sonnenbadende prima beobachten läßt. Den drei Nachbarn macht es großen Spaß, weil es ihnen Gelegenheit gibt, sich »pervers-psychologische Neigungen« vorzuwerfen, die längst jenseits des langweilig- fleischlichen Sexualverlangens liegen. Sie schließen eine Wette ab, die der gewinnen soll, der den hustler »Paul« wie im wirklichen Leben zu verführen vermag. Nachbarin Geneviève, wie die anderen in Badekleidung, macht den ersten Versuch — die Kamera folgt ihrem Tun mit einem kessen Reißschwenk. Sie cremt Paul den Rücken ein, geht mit ihm schwimmen usw., was von den beiden Männern auf der Veranda mit allen denkbar plausiblen Gemeinheiten kommentiert wird. Der andere Nachbar erhält seine Chance im Badezimmer, wo sich die beiden Männern über Zahnpflege und Berufsperspektiven unterhalten, pinkeln, sich mit Q-Tips die Ohren reinigen, sich desodorieren. Leider versteht man in der Badezimmersequenz nicht immer, worum es geht, weil das Mikrophon nicht bis in die Duschkabine reichte. Das macht aber nichts, auch so ist es ziemlich lustig zu sehen und zu hören, wie Paul allmählich, ohne eigenes Zutun, seinem »delial«- Schicksal entkommt und zu dem Helden wird, der die Fäden in der Hand hält. Die Nachbarn versuchen immer penetranter, sich vor ihm ins vorteilhafteste Licht zu stellen, und versprechen ihm alles, um seine Gunst zu erlangen, also die Wette zu gewinnen. »I will take you to Europe.« — »I'm extremely educated, I've got a large library.« Wie Paul sich am Ende entscheidet, erfährt man nicht, denn auch dieser Warhol-Film will seine Zuschauer zum eigenständigen Nachdenken anregen. Dorothee Wenner

My hustler (OM), Mo., 11.3., um 20 Uhr, Fr., 22.3., um 22.15 Uhr. Kiss Di., 12.3., um 20 Uhr, Sa., 23.3., um 22.15 Uhr. Blow Job und Eat 26.3., 22.15 Uhr. Alle weiteren Filme siehe Programmteil.