Ahoi, roter Udo!

14 Jahre nach dem mysteriösen Untergang der „Lucona“ fällt das Landesgericht Wien heute sein Urteil gegen Udo Proksch/ Reihenweise gerieten Minister aus dem roten Filz in den Skandalstrudel  ■ Von Thomas Scheuer

Der Mann, der sich da etwas unbeholfen aus dem Polizeifahrzeug pellt, verkörpert die Deformation, die lange Untersuchungshaft an einem Menschen anrichten kann. Zwischen fettigen Haarsträhnen und vernachlässigtem Bartgestrüpp quillt ein blasses Gesicht; im schäbigen Jackett sorgt ein Schmerbauch für wachsende Spannung. Wie einen Penner, den er eben unter einer Donaubrücke aufgescheucht hat, zieht ein Wachtmeister den müden Angeklagten an einer Handschelle durch das Spalier der Schaulistigen hinein ins Wiener Landesgericht, das sogenannte „Graue Haus“.

Der Kadi drinnen verkörpert nicht nur den juristischen Widerpart. Der Vorsitzende Richter gibt sich prima gelaunt und bestens erholt, sein Gesicht weist satte Sonnenbräune aus. Der Herr Richter ist erst jüngst von seiner exotischsten Dienstreise ins „Graue Haus“ zurückgekehrt. Lokaltermin am Tatort, und der liegt mitten im Indischen Ozean, acht Grad nördlicher Breite, siebzig Grad östlicher Länge, etwas unterhalb der Malediven. Dort, auf hoher See, begann die ganze Geschichte vor vierzehn Jahren.

Der Schiffbruch

Über jenem Koordinatenpunkt im Ozean tuckert am 23. Januar 1977 die „MS Lucona“. Der Frachter ist auf dem Weg von Chioggia bei Venedig nach Hongkong. Um 15.50 Uhr Schiffszeit, es herrscht bestes Wetter, erschüttert ein Donnerschlag das Schiff, „als ob ein Auto gegen die Wand gefahren wäre“, wie sich später ein Überlebender erinnern wird. Der Kahn verliert abrupt an Fahrt, der Bug taucht weg, das Heck mit der Schraube ragt noch ein, zwei Minuten steil in die Luft. Dann versinkt der Dampfer und reißt dabei sechs der insgesamt zwölf Seeleute mit in die Tiefe. An dieser Stelle ist das Meer 4.000 Meter tief. Sechs Überlebende werden später von einem vorbeifahrenden Schiff gerettet.

Die Lucona samt Fracht gehörte dem Wiener Glücksritter und Tausendsassa Udo Proksch und seinem deutschen Geschäftskumpan Hans Peter Daimler. Udo Proksch war seinerzeit eine der schillerndsten Figuren der Wiener Schicki-Micki- Szene: Für die Klatschmagazine ließ sich der Partylöwe und angebliche Frauenheld mal im Napoleon-Dreß, mal im militärischen Vierfruchtpyjama (Tarnanzug) ablichten. Als gelernten Beruf gibt er noch heute Schweinehirt zu Protokoll. Nachdem ihm als Brillendesigner und Erfinder der geschäftliche Aufstieg versagt geblieben war, verdiente er sich seine Brötchen und Törtchen als Zehn-Prozent-Gesellschafter und Geschäftsführer der berühmten K.u.K.-Hofzuckerbäckerei Demel. In dem Wiener Traditionslokal gab sich die Crème der regierenden Sozialdemokratie die Klinke in die Hand. In einem Raum über dem berühmten Kaffee tagte regelmäßig der Club 45. Der Runde, im Volksmund oft als „rote Loge“ bezeichnet, gehörten praktisch alle führenden SPÖ- Politiker, wichtige Leute aus Wirtschaft, Justiz und Medien an. Als Gastgeber durfte Demel-Hausherr Proksch der erlauchten Runde den Kaffee einschenken und rückte in die Intimzone des rosaroten Regierungsfilzes. Den „roten Udo“ nannte die Wiener Bussi-Szene bald den buntesten Hund der Stadt. Doch hinter der pittoresken Fassade des Prominenten-Zuckerbäckers verbarg sich ein skrupelloser Geschäftsmann.

Guggenbichler, übernehmen Sie!

Für den Demel-Chef war der Untergang der Lucona samt ihrer wertvollen Fracht, einer kompletten Uranerzmühle, leicht zu verschmerzen. Schließlich war das Frachtgut mit über 30 Millionen Mark prima versichert. Doch die Wiener Bundesländerversicherung verweigerte die Zahlung. Ein Seegericht in Rotterdam konnte den Untergang der des Schiffes nicht schlüssig klären. (Sachverständige hatten vermutet, das Schiff sei bei voller Fahrt auf ein unter Wasser treibendes Wrack aufgelaufen.) Die Bundesländermanager witterten Versicherungsbetrug und während Prokschs Schweizer Briefkastenfirma Zapata den Versicherungskonzern auf Zahlung verklagte, schaltete dieser einen Privatdetektiv ein. Dieser Detektiv, ein hagerer Mann mit dem unschlagbaren Namen Dietmar K. Guggenbichler, genoß in der Branche nicht gerade den besten Ruf. Sein Spitzname „Dirty Dietmar“ deutete auf zuweilen zweifelhafte Methoden hin. Journalisten und Kunden führte er auf seiner hauseigenen Schießbahn gern erst mal ein paar Combatschüsse im Laufen, Fallen und Liegen vor. Seine artistischen Schießkünste hatte er sich während seiner Zeit bei der zivilen Wachmannschaft des Frankfurter US-Militärflughafens angeeignet. Guggenbichler witterte angesichts eines ausgesetzten Erfolgshonorares von über 700.000 D-Mark das Geschäft seines Lebens und eine Chance, sein lädiertes Image zu polieren. Er schüttelte Witwen und durchkämmte Akten. Fünf Monate raste er kreuz und quer durch Europa. Am Ende hatte er eine Viertelmillion Spesen verbraten. Dann erstattete Guggenbichler Strafanzeige gegen Udo Proksch und weitere Beteiligte — nicht nur wegen Versicherungsbetrugs, sondern gleich noch wegen sechsfachem Mord und Sprengstoffvergehen. Guggenbichler behauptete nämlich aufgrund seiner Nachforschungen, die Lucona sei absichtlich versenkt worden. An Bord sei gar keine wertvolle Uranerzmühle gewesen, sondern lediglich frisch angestrichener Schrott aus einem alten Bergwerk. Aus dem vermeintlichen Versicherungsbetrug schien ein Mordfall geworden. Guggenbichlers halbseidener Ruf machte es Proksch und seinen Anwälten zunächst leicht, dessen Anschuldigungen als Spinnereien eines „als Privatdetektiv dilettierenden Ganoven“ abzuqualifizieren. Der Wiener Kurier etwa urteilte: „Wie's aussieht, wird von der Anzeige des Privatdetektivs Dietmar K. Guggenbichler wegen sechsfachen Mordverdachts und schweren Betruges etwa soviel übrig bleiben wie vom Zauber des Waldes in einer Schwammerlsuppe aus Fliegenpilzen. Wenig bis gar nichts.“

Anfangs sah es tatsächlich so aus. Die Anzeige des Hüftschützen Guggenbichler war der eigentliche Startschuß für eine grandiose Justizposse, die selbst im affärenerprobten Wien ihresgleichen sucht: Da nahmen Untersuchungsrichter Ermittlungen auf und wurden vom Minister höchstpersönlich alsbald wieder zurückgepfiffen. Da wurden Berichte erstellt, die bald darauf ebenso spurlos verschwunden waren wie weiland die Lucona in den Tiefen des Ozeans. Denn daß dem „roten Udo“ keiner so leicht was konnte, dafür sorgten mächtige Freunde an den Knotenpunkten des Wiener Filzes, allen voran die Genossen des Demel-Kaffeekränzchens Club 45. Im Februar 1985 etwa wurde Hofkonditor Proksch direkt vor dem Demel von übereifrigen Bundespolizisten verhaftet. Seltsamerweise wurden die Ermittlungen danach nicht etwa intensiviert, sondern monatelang ruhen gelassen — auf direkten Befehl des Innenministers Blecha, wie sich später herausstellen sollte. Auch Blecha trank seinen großen Braunen regelmäßig im Club 45. Knapp einen Monat nach seiner Verhaftung war Proksch wieder auf freiem Fuß.

In den Wiener Kaffeehäusern brodelte derweil die Gerüchteküche. War die Lucona gar nicht untergegangen, schipperte vielmehr mit neuem Anstrich und anderem Namen über die Weltmeere? War die Urananlage für Pakistan bestimmt gewesen und der Kahn einem feindlichen Geheimdienst zum Opfer gefallen? Oder hatte der Waffenfanatiker Proksch konventionellen Schießkram nach Asien schmuggeln wollen? An Fahrt gewann das Rätselkarussell noch, als sich Hauptdarsteller Udo Proksch eines Tages bei Nacht und Nebel mit unbekanntem Ziel absetzte.

In die wahrhaft ozeanischen Tiefen der Affäre stieß erst vor zwei Jahren ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß vor. Ihm ist es zu verdanken, daß letztlich „die bizzarste Affäre, die seit dem Krieg ein europäisches Land heimsuchte“ ('Spiegel‘) doch noch durchleuchtet wurde.

Das Parlament deckt auf

Die mühsame Puzzle-Arbeit der Volksvertreter, allen voran des investigativ veranlagten Grünen Dr. Peter Pilz, führte zu einem Sittengemälde des Wiener Filzes: Den Sprengstoff, mit dem die Lucona in den Grund gebohrt und sechs Matrosen ermordet wurden, stammte aus Arsenalen der österreichischen Armee. Der damalige Verteidigungsminister Lütgendorf höchstpersönlich hatte ihn für Prokschs obskuren „Verein zur Förderung der Senkrechtbestattung“ freigegeben. Der obskurere Verein wollte mit dem Explosivstoff angeblich von ihm entwickelte Stehsärge auf ihre Eignung als Ein-Mann-Unterstände gegen feindlichen Beschuß testen. Ex-Außenminister und Parlamentspräsident Leopold Gratz wurde überführt, Proksch bei der falschen Bescheinigung der Fracht dienstbar gewesen zu sein. Innenminister Karl Blecha überführten die Parlamentarier, wissentlich Ermittlungsbehörden und Justiz behindert und abgeblockt zu haben. Gratz und Blecha traten vor dem Ausschuß auf und kurz danach von ihren Ämtern zurück. Lütgendorf hatte beizeiten Selbstmord begangen. Weitere hohe Beamte, darunter ein Gerichtspräsident und der Polizeidirektor eines Bundeslandes, verdanken dem Ausschuß ebenfalls den vorzeitigen Ruhestand.

Nachdem der parlamentarische Lucona-Ausschuss politisch vorgespurt hatte, wurde endlich auch Justitia von der Leine gelassen. Doch der fehlte ein Täter. Daimler hatte sich heim nach Deutschland geflüchtet, wo er als deutscher Staatsbürger vor Auslieferung sicher war; Proksch blieb in Übersee verschwunden. Im Oktober 1989 flog Proksch aus den USA nach London, von dort wollte er nach Nürnberg. Was er ausgerechnet in Deutschland wollte, ist unbekannt. Jedenfalls erwischte er dummerweise einen Flug, bei dem er in Wien umsteigen mußte. Dort verließ er wohlweislich nicht den Transitraum. Den hatte kurz zuvor übrigens ein taz-Reporter passiert, nichts ahnend von dem bevorstehenden kriminal-historischen Höhepunkt. Trotz perfekter Tarnung erkannte ein Grenzpolizist Österreichs prominentesten Flüchtling. Proksch wurde verhaftet. Das Gericht hatte seinen Angeklagten. Der Proksch-Prozeß konnte endlich beginnen.

Nebenspur in der Schweiz

Im vergangenen Sommer wurde bereits ein Nebenschauplatz der Lucona-Affäre im Nachbarland Schweiz juristisch bereinigt: Wie so viele Schummler und Schieber hatten auch Proksch & Partner eine Scheinfirma in der benachbarten Schweiz installiert, die Zapata AG. Ihren Sitz hat diese „Firma“ auf einem Bauernhof in dem Kaff Geuensee bei Fribourg. Die Zapata fungierte in den Papieren als formelle Eigentümerin der versunkenen Lucona-Fracht, welche sie angeblich von der schweizerischen Decobul SA erworben haben wollte, einem mittlerweile Pleite gegangenen Kleinbetrieb für Präzisionsmechanik, dessen Chef Erwin Egger mit Udo Proksch die Vorliebe teilte, sich im Kampfanzug mit Knarre im Anschlag fotografieren zu lassen. Als Zapata-Repräsentant für Österreich auftretend, hatte Proksch — unter seinem Aliasnamen Serge Kirchhofer — den Lucona-Deal seinerzeit eingefädelt. Ein Strafgericht im Kanton Fribourg verurteilte Erwin Egger, Inhaber der Decobul und Greta Fischer, Verwalterin von Prokschs Briefkastenfirma Zapata im letzten Sommer wegen Urkundenfälschung und Betrug. Das Gericht sah es als erwiesen an, daß die Lieferung der Urananlage mittels gefälschter Papiere lediglich vorgetäuscht wurde. Schriftgutachter waren zu dem Schluß gekommen, daß einige der Dokumente, die der Bundesländerversicherung nachgereicht wurden, erst nach dem Untergang der Lucona angefertigt worden waren. Udos eidgenössische Strohleute hätten „mit krimineller Energie ein komplexes Lügengebäude errichtet“, urteilten die Schweizer Richter. Quittung: drei Jahre Haft.

Justitia auf Tauchstation

Das Wiener Landesgericht wollte es ganz genau wissen und entschloß sich zu dem wohl spektakulärsten Beweissicherungsverfahren in Österreichs Justizgeschichte. Vor etwa einem Monat lud das Gericht dann zum Fernsehnachmittag. Über den Bildschirm flimmerten die Beweise aus der Tiefsee: das Wrack der Lucona. Möglich gemacht hatte diese Show ein Tauchroboter namens Magelan. Drei Millionen Mark ließ sich Justitia den Tauchgang im Dienste der Wahrheitsfindung kosten. Tagelang gründelte Magelan, ferngesteuert von einem Spezialschiff des amerikanischen Bergungsunternehmens Eastport, Planquadrat für Planquadrat dort durch den Schlamm auf dem Meeresboden, wo die Lucona vermutet wurde. Der risikofreudige Richter Leiningen, dessen Karriere bei einem Scheitern des maritimen Lokaltermins wohl beendet gewesen wäre, verfolgte die Aktion persönlich vom Schiff aus mit. Dann hatten die Videoaugen des Tauchroboters in genau 4.193 Meter Tiefe Wrack und Trümmer im Visier: Schiff und Ladung konnten per Videoperformance identifiziert werden. Deutlich ist auf Maschinenteilen der Schriftzug Zapata erkennbar. Registriernummern wie etwa XB-19, U1302 oder B1 sind zu entziffern; sie entsprechen Eintragungen in den Ladelisten. Die im Schlamm liegenden Teile wurden als wertloser Schrott identifiziert.

Sprengstoffgutachter erklärten nach Analysen der Lage und Beschädigungen des Wracks, es sei zweifelsfrei gesprengt worden. Die Sprengladung, 200 Kilogramm, müsse wohl etwas weiter vorne im Frachtraum deponiert gewesen sein, als man bisher angenommen hatte. „Herr Proksch, was glauben Sie, was das für ein Schiff ist?“ frägt Richter Leiningen den Angeklagten am Ende der Welturaufführung. Udo Proksch unsicher: „Das Schiff könnte es sein, ich kann es nicht erkennen, es könnte sein.“

Nachspiel in Deutschland

Mit größtem Interesse verfolgten auch zwei Herren auf der Zuschauerbank die Welturaufführung, die zu Hause flachere Gewässer gewohnt sind: Ermittler der Staatsanwaltschaft Kiel. Denn auch der deutschen Justiz steht ein Lucona-Verfahren ins Haus. Proksch-Spezi Hans Peter Daimler hatte sich der drohenden Verhaftung nämlich durch rechtzeitige Flucht in die Bundesrepublik entzogen, von wo aus er als Staatsbürger derselben nicht nach Österreich ausgeliefert werden darf. Deshalb mußte sich die Kieler Justiz, in deren Sprengel Daimler seinen Wohnsitz anmeldete, der Causa Lucona annehmen. Gegen Daimler wird, so bestätigte die dortige Staatsanwaltschaft der taz auf Anfrage, „im Wesentlichen wegen der gleichen Vorgänge wie in Wien“ ermittelt. Was das Schicksal der Lucona betrifft, können sich die Kieler weitgehend auf die Arbeit ihrer Wiener Kollegen stützen. Den „konkreten Tatbeitrag Daimlers“ müssen sie allerdings selbst ergründen. Wie hatte Daimler doch vor Jahren in Wien seine Rolle, allerdings auf seine gastronomischen Projekte bezogen, so treffend selbst charakterisiert: „Ich ziehe es vor, im Hintergrund zu organisieren. Dort aber kräftig.“

Die Rolle des Oberbefehlshabers Udo Proksch wird das Wiener Landesgericht heute abschließend beurteilen. Der gescheiterte Glücksritter hat eine hohe Haftstrafe zu erwarten. Staatsanwalt Erich Müller sah letzten Freitag Prokschs Schuld wegen sechsfachen vollendeten und sechsfachen versuchten Mordes sowie wegen Versicherungsbetruges zweifelsfrei erwiesen. Geknickt verfolgte der gealterte Gaudibursche durch eine klobige Hornbrille das Finale der von ihm ins Rollen gebrachten Jahrhundertaffäre. Der heutige Urteilsspruch dürfte sein letzter Schiffbruch sein.